Der Schrei des Hahns Minette Walters Die 22-jährige Elsie Cameron ist weder hübsch noch charmant, kaut Fingernägel und hat auch sonst nichts, was Männer anziehen könnte. Im Gegenteil, sie ist launisch, Besitz ergreifend und eifersüchtig. Dabei will sie doch nur eines: geliebt werden um jeden Preis. Und zwar von Norman Thorne. Der jüngere und in Liebesangelegenheiten noch unbedarfte Norman gibt Elsies stürmischem Werben allzu schnell und unüberlegt nach — nicht ahnend, worauf er sich einlässt... Minette Walters Der Schrei des Hahns Meinem guten Freund Paul »Der Schrei des Hahns« basiert auf der wahren Geschichte des sogenannten „Hühnerfarmmords”, der im Dezember 1924 in der Blackness Road in Crowborough in East Sussex verübt wurde. KAPITEL 1 Methodistenkircbe in Kensal Rise, Nord-London, im Winter 1920 Schneeschwere Wolken verdunkelten den Himmel an dem Tag, an dem Elsie Cameron das erste Mal mit Norman Thorne sprach. Vielleicht hätte Elsie die düstere Stimmung als Vorzeichen kommender Ereignisse nehmen sollen. Aber wie hätte sie ahnen sollen, dass ein Mann, den sie in der Kirche kennenlernte, sie vier Jahre später an einem Ort namens Blackness Road in Stücke hacken würde? Draußen peitschten Wind und Schneeregen den gotischen Turm der Kirche in Kensal Rise. Drinnen saßen in ihre Mäntel verkrochen die Gemeindemitglieder und hörten dem Pastor zu. Er wetterte gegen den Teufel Alkohol, der dem Menschen alles Moralgefühl raubte. Gottes Fluch, donnerte er, werde den Mann treffen, der im Zorn die Hand erhob. Und die Frau, die vor der Ehe einem Manne beischlief. Elsie Cameron, klein, reizlos, zweiundzwanzig Jahre alt, mit abgekauten Fingernägeln und dicken Brillengläsern, hörte kaum hin. Es war immer dieselbe Leier und für ein einsames junges Mädchen, das an Depressionen litt, eine Botschaft zermürbender Hoffnungslosigkeit. Elsie wollte geliebt werden. Aber die einzige Liebe, die in der Kirche geboten wurde, war die Liebe Gottes, und die war an Bedingungen geknüpft. Ihr Blick glitt seitwärts, zu dem jungen Mann, der nicht weit entfernt mit seinem Vater und seiner Stiefmutter in einer Bank saß. Elsie klopfte das Herz immer ein wenig schneller, wenn sie ihn sah. Er war vier Jahre jünger als sie — achtzehn -, aber er sah gut aus, und wenn er einen Blick von ihr auffing, lächelte er jedes Mal. Er hieß Norman Thorne und war Mechaniker bei Fiat Motors in Wembley. Normans richtige Mutter war gestorben, als er acht gewesen war. Mit sechzehn hatte er sich zum Royal Naval Air Service, der Luftstreitmacht der Marine, gemeldet, um am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Der Krieg endete drei Wochen nach seiner Ankunft in Belgien, und er kam nie bis an die Front. Aber das spielte für Elsie keine Rolle. Jeder Mann, der für sein Vaterland eintrat, war ein Held. Sie sorgte sich wegen des Altersunterschieds, weil sie Angst hatte, gehänselt zu werden. Würden die Leute spotten, sie vergreife sich an kleinen Jungen, wenn sie mit ihm ausging? Aber die Arbeit als Mechaniker hatte ihn kräftiger werden lassen. Niemand würde vermuten, dass er erst achtzehn war. Elsie kaute nervös auf den Fingernägeln, während sie über einen Vorwand nachdachte, ihn anzusprechen. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, dass nur „liederliche” Frauenzimmer den ersten Schritt machten. Warte, bis der Mann zu dir kommt, hatte sie gesagt. Aber es hatte nicht geklappt. Elsies Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, fanden ohne Problem jemanden, der „mit ihnen gehen” wollte. Elsie nicht. Elsie machte den Männern Angst. Sie war zu heftig in ihren Gefühlen, zu vereinnahmend, zu verkrampft. Sie fürchtete, was sie sich wünschte, und wünschte sich, was sie fürchtete. Sie hatte Alpträume, als alte Jungfer zu enden — nicht begehrt und nicht geliebt aber zu flirten wie die anderen jungen Mädchen, das schaffte sie nicht. Der ideale Mann würde sich damit begnügen, sie anzubeten, bis er ihr einen Ring an den Finger stecken durfte. Erst danach würde so etwas passieren. Elsie hatte etwas Verbohrtes, das sie verleitete, anderen die Schuld an ihren Schwierigkeiten zu geben. Sie konnte doch nichts dafür, dass sie nicht hübsch war. Daran waren ihre Eltern schuld. Und sie konnte auch nichts dafür, dass sie keine Freunde hatte. Sie müsste schön dumm sein, Leuten zu vertrauen, die hinter ihrem Rücken tratschten. Elsie war Stenotypistin in einer kleinen Firma in der City, aber ihre Arbeitskollegen hatten von ihren Stimmungsschwankungen schon lange genug. Sie nannten sie „schwierig” und murrten über ihre Fehler. Sie grollte ihnen dafür. Sie grollte ihrem Chef, der sie zur Rede stellte, weil sie ihre Arbeit nicht ordentlich machte. Ganz selten einmal — in den Tiefen der Hoffnungslosigkeit — fragte sie sich, ob ihre Kollegen vielleicht recht hatten. War sie schwierig? Im Allgemeinen gab sie ihnen die Schuld daran, dass sie unglücklich war. Wenn die Leute freundlich zu ihr waren, war sie gern auch freundlich. Aber warum sollte sie immer als Erste freundlich sein müssen? Leben und Tod hängen an solchen Kleinigkeiten. Wäre einer von ihnen gestorben, wenn Norman nicht gelächelt hätte? Als die Gemeinde zur Kirche hinausdrängte, war Norman Thorne ein, zwei Schritte vor Elsie. Sie tat, als kramte sie in ihrer Handtasche, und trat ihm mit voller Absicht von hinten auf die Ferse. Er sah sich irritiert nach ihr um. Sie stieß einen dünnen Schrei der Bestürzung aus. »Huch!«, rief sie und grapschte nach seinem Ärmel. Norman bot ihr die Hand, um ihr Halt zu geben. »Alles in Ordnung?« Elsie nickte. »Entschuldigen Sie vielmals.« »Denken Sie sich nichts.« Er machte Anstalten weiterzugehen. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie hastig. »Norman Thorne. Ich bin Elsie Cameron. Wir wohnen ganz in der Nähe. Meine Mutter hat erzählt, dass Sie im Krieg waren. Dann sind Sie also ein Held.« Norman lächelte schüchtern. »Eigentlich nicht.« »Ich finde schon.« Der Junge war geschmeichelt. Und warum hätte er es nicht sein sollen? Er war jung, und noch nie hatte ein Mädchen ihn so angesehen. Norman, von seinem Vater streng erzogen, trank nicht und rauchte nicht. Er half bei der örtlichen Pfadfindergruppe aus, unterrichtete in der Sonntagsschule und war auf vielerlei Art in der Gemeinde tätig. Sein Lächeln wurde breiter. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Elsie.« Normans Vater war nicht erfreut, als sein Sohn ihm erzählte, dass er eine Freundin hatte. »Du bist zu jung für solchen Unfug«, erklärte Mr. Thorne. »Steck deine Kräfte lieber in die Arbeit.« »Ich hab ja gar nicht vor, sie zu heiraten, Dad.« »Dann sei vorsichtig, mein Junge. Wir brauchen keine Mussheiraten in unserer Familie.« Elsies Mutter war ebenso wenig erfreut. »Er ist noch ein halbes Kind, Schatz. Ein älterer Mann wäre besser für dich.« »Er sieht nicht aus wie achtzehn.« »Das kann ja sein, Elsie... aber auf lange Sicht macht er dich bestimmt unglücklich. Er wird anfangen, sich zu langweilen, und wird dich dann wegen einer anderen verlassen. So sind diese jungen Kerle.« Mrs. Cameron, die beim Wäschewaschen war, stand über den Spülstein in der Küche gebeugt. Ihre Arme steckten tief in Seifenschaum, und Elsie starrte mit Abscheu auf ihren gekrümmten Rücken. »Warum musst du mir immer alles vermiesen?«, fragte sie. »Das will ich doch gar nicht«, antwortete ihre Mutter seufzend, »aber dein Vater und ich finden -« Sie brach ab. Sie war der Diskussionen müde, und Elsie nahm ihre Ratschläge ohnehin nie an. Sie hatte ihre Tochter im Grunde schon aufgegeben. In Elsies Leben gab es kein Mittelmaß. Liebe musste bedingungslos sein. Hilfe unermüdlich gegeben werden. Und wehe, man fand etwas an ihr auszusetzen. Bei der leisesten Kritik, mochte sie noch so gut gemeint sein, geriet sie in Wut oder — schlimmer noch — drohte mit Selbstmord. Es kam vor, dass Elsie wochenlang kein Wort mit ihren Eltern sprach. Dann wieder gab es Zeiten, da buhlte sie um sie. Friedliche Beziehungen ohne Konflikte kannte sie nicht. Weder zu Hause noch bei der Arbeit. Sie konnte einen Menschen heute mögen und morgen verachten. Und sie begriff nie, warum das die Leute abschreckte. »Das ist ungerecht«, rief sie jedes Mal und brach in Tränen aus. »Warum sind nur alle so gemein zu mir?« Ihre Eltern hatten beide Sorge, dass es mit ihr kein gutes Ende nehmen würde. Mrs. Cameron betete darum, dass sie einen älteren Mann finden würde, der bereit war, ihre Launen hinzunehmen. Mr. Cameron sagte, solche Männer gebe es heutzutage nicht mehr. Wenn es sie je gegeben habe, seien sie alle im Krieg gefallen. Der Krieg hatte unter den Männern gewütet. Das bedeutete, dass eine ganze Generation junger Frauen keine Ehemänner finden würde. Auf jeden Norman Thorne kamen fünf junge Frauen, die bemerkt werden wollten. Und Mrs. Cameron kannte Elsie gut genug, um zu wissen, dass sie viel zu kompliziert und anstrengend war, um Normans Interesse länger zu fesseln. Aber wie die Arbeitskollegen ihrer Tochter hatte sie das bockige, launische Wesen ihrer Tochter satt. »Tu, was du willst«, sagte sie, während sie einen Kopfkissenbezug aus dem Wasser zog und gegen das hölzerne Waschbrett schlug. »Nur komm nicht zu mir gelaufen, wenn Norman Thorne dich sitzen lässt.« KAPITEL 2 Nord-London — Sommer 1921 Norman trottete schlurfend neben Elsie her. Fiat hatte ihm gekündigt, und er lebte von zehn Schillingen Stütze die Woche. »Alle sind entlassen worden«, sagte er. »Es ist überall das Gleiche. Dad hat gesagt, es gibt drei Millionen Arbeitslose, und es soll noch schlimmer werden.« Elsie musste schnell gehen, um mit ihm Schritt zu halten, er hatte längere Beine. »Und was willst du tun?« »Keine Ahnung.« »Aber irgendwas musst du tun, Schatz. Du kannst nicht auf Dauer von der Stütze leben.« (Sie meinte: „Wenn du nicht bald eine andere Arbeit findest, werden wir ewig nicht heiraten können.” Aber Norman wich aus, wie immer bei diesem Thema.) »Sie haben uns belogen«, beschwerte er sich stattdessen. »Als wir an die Front gegangen sind, haben sie uns erzählt, wenn wir heimkommen, würden wir ein Land vorfinden, „das seiner Helden würdig” sei. Weißt du noch? Sie haben uns Arbeit und Geld versprochen -«, er schlug zornig nach einem Busch, an dem sie vorüberkamen, »- und gekriegt haben wir verdammt noch mal gar nichts.« Elsie überging das „Verdammt noch mal”. Jetzt war nicht der Moment, ihm das Fluchen zu verbieten. Sie hätte am liebsten gesagt, dass es ihr ärger zu schaffen machte als ihm. Alles war so gut gelaufen, solange er verdient hatte. So gut, dass er sogar gelächelt hatte, wenn sie Andeutungen übers Heiraten machte. Nun stand er ohne Arbeit da, und alles war anders. Von Heirat könne keine Rede sein, solange er arbeitslos war. Frau und Kinder kosteten Geld. Kein Mann dürfe Versprechungen machen, die er dann doch nicht einlösen konnte. Zu einer Ehe gehöre mehr als ein paar Küsse. Not und Armut führten zu Wut und Hass. Solche Dinge wollte Elsie nicht hören. Sie hatte eine romantische Ader und redete sich ein, dass die Liebe alle Schwierigkeiten überwinden könne. Was konnte es ihnen schon ausmachen, arm zu sein, wenn sie zusammenhielten? Sie wusste, dass sie für Norman sehr viel mehr empfand als er für sie. Sie nannte ihn „Bärchen”, „Schatz” oder „Liebster”, aber er nannte sie immer nur „Elsie” oder „Else”. Sie hakte sich bei ihm unter und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Du hast mir doch immer erzählt, dass man mit Hühnern gut verdienen kann. Warum baust du dir nicht eine Hühnerfarm auf?« »Und wo bitte?« Sein Ton war gereizt, als fände er ihren Vorschlag albern. Aber er stieß sie nicht weg. »Jedenfalls nicht in London. Irgendwo außerhalb. Sussex oder Surrey vielleicht. Auf dem Land ist der Grund billiger.« Er blieb stehen. »Und wie soll ich das bezahlen?« »Du könntest deinen Vater fragen, ob er dir was leiht. Du hast doch gesagt, dass er immer sehr sparsam war und etwas zur Seite gelegt hat. Wer weiß! Vielleicht gibt er lieber mit warmer Hand, als zu warten, bis die Hand kalt ist. Er hat doch niemanden, dem er es hinterlassen kann.« »Meinst du wirklich?« »Warum denn nicht? Hühner züchten ist besser, als von der Stütze leben.« Es war erstaunlich, wie schnell seine Niedergeschlagenheit verflog. »Du könntest recht haben, Else. Er hat gesagt, dass er mir jederzeit unter die Arme greifen würde, wenn Not am Mann ist.« »Na bitte.« Flüchtig drückte er ihre Hand. »Wir könnten uns aber nicht mehr so oft sehen. Sussex ist ganz schön weit von Kensal Rise.« »Das schaffen wir schon«, meinte sie. »Wir schreiben uns eben jeden Tag. Das macht unsere Liebe nur stärker.« Norman war überrascht, wie schnell sein Vater die hundert Pfund für das Vorhaben lockermachte. Elsie meinte, er glaube eben an seinen Sohn. Norman vermutete, dass es ihm mehr darum ging, ihn von Elsie zu trennen. Mr. Thorne war ein wenig zu erpicht darauf, seinen Sohn nach Sussex zu schicken. Vielleicht hoffte er auf den alten Spruch, aus den Augen, aus dem Sinn. »Die Veränderung wird dir guttun«, sagte er vergnügt. »Es wird Zeit, dass du neue Leute kennenlernst und versuchst, auf eigenen Beinen zu stehen. Hier versauerst du langsam, mein Junge.« Das Gefühl hatte Norman manchmal auch. Er mochte Elsie gern. Er fragte sich sogar, ob er sie liebte, wenn sie guter Laune war. Aber er konnte nie voraussagen, wann das sein würde. Das machte ihn fertig. Es gab Tage, da war sie glücklich und vergnügt, dann wieder welche, da war sie alles andere. Und immer musste er sich ihrer Stimmung anpassen. Nie umgekehrt. Sie bezeichnete ihre Höhen und Tiefen als ihre „Nerven”. »Ich sorge mich eben, Bärchen. Das macht mich nervös. Meine Mutter sagt, das vergeht, wenn ich eine eigene Familie habe. Wenn man Kinder hat, hat man keine Zeit mehr dafür.« Norman bezweifelte das. Mit einem Kind würde sie sich bestimmt noch mehr sorgen. Aber er sagte nichts. Es war leichter, mit Elsie zurechtzukommen, wenn sie Pläne machen konnte. Für sie war es selbstverständlich, dass er Teil ihrer Zukunft sein würde. Ein-, zweimal versuchte er anzudeuten, dass es auch anders kommen könnte. »Ich bin nicht der einzige Mann auf der Welt, Else. Kann doch leicht sein, dass du was Besseres findest.« »Wie denn? Du bist doch mein einziger liebster Schatz.« »Vielleicht finde ich was Besseres«, meinte Norman nicht ganz im Scherz. Sie ließ es ihn büßen, wenn er so etwas sagte. Ein älterer Mann hätte ihr eingeschnapptes Getue zum Vorwand genommen, um die Sache zu beenden. Aber ein gottesfürchtiger Junge von neunzehn Jahren, der, von Elsies überschwänglicher Liebe geschmeichelt, schon umgarnt war, konnte das nicht. Das erklärt vielleicht, warum der Plan, außerhalb von London eine Hühnerfarm aufzuziehen, Norman ebenso willkommen war, wie seinem Vater. Er hoffte, eine Verschnaufpause würde ihm helfen, einen Entschluss zu fassen. Er kaufte ein Stück Land an der Blackness Road in Crowborough in Sussex und übernahm es am 22. August 1921. Um gleich von Anfang an freundliches Wohlwollen auf das Unternehmen herabzubeschwören, nannte er das Anwesen Wesley Geflügelfarm. (John Wesley war der Begründer der methodistischen Bewegung.) Norman wohnte am Ort. Tagsüber baute er die Verschläge und die Auslaufhöfe für die Hühner. Es war noch warm im September, und die Arbeit war hart. Sein einziges Transportmittel war sein Fahrrad, und er ging sehr vorsichtig mit seinem Geld um. Nach dem Landkauf musste er Holz und Draht besorgen, aber zugleich genug zurückbehalten, um einen Grundstock an Hühnern anlegen zu können. Das bedeutete, dass er die meiste Zeit allein auf seinem Hof verbrachte und abends niemals ausging. Natürlich fehlte ihm Elsie. Sie schrieb ihm jeden Tag, um dafür zu sorgen, dass er sie nicht vergaß. „Norman, mein liebster Schatz…” „Ach, mein Liebling, ich hebe Dich so sehr…” „Denkst Du so oft an mich, wie ich an Dich denke, Bärchen?…” „Wächst die Liebe zu deinem kleinen Schatz ein wenig mit der Entfernung…?” О ja. Jeden Freitagabend fuhr er auf seinem Fahrrad die achtzig Kilometer nach Kensal Rise, um das Wochenende mit ihr zu verbringen. Aber die Fahrt hin und zurück war anstrengend, und er warnte sie, dass er sie nicht mehr würde auf sich nehmen können, wenn erst die Hühner da waren. »Ich kann die nicht einfach allein lassen, Else. Sie müssen samstags und sonntags genauso gefüttert und getränkt werden wie wochentags.« Als sie weinerlich zu jammern begann, erzählte er ihr, er wolle eine Hütte bauen, um darin wohnen zu können. »Was Großartiges wird es nicht«, sagte er. »Vielleicht drei fünfzig mal zwei fünfzig, aber es ist ein Brunnen da, und ich kann an der einen Wand ein Bett aufstellen. Ich habe einen Ölofen zum Kochen, und wenn es dunkel wird, zünde ich Kerzen an.« Elsie fand, das klänge romantisch. Norman schüttelte den Kopf. »So haben es die Jungs in den Schützengräben gehabt«, sagte er. »Ungemütlich und primitiv — aber es kommt billiger, als jeden Abend Geld für ein Zimmer auszugeben. Ich baue an, wenn es anfängt, bergauf zu gehen, und eines Tages wird es dann ein richtiges Haus sein.« Sie dachte schon voraus. »Ich kann dich an den Wochenenden besuchen.« »Die Hütte steht noch nicht.« »Ich komme mit der Eisenbahn und gehe vom Bahnhof aus zu Fuß.« »Du kannst nicht über Nacht bleiben, Elsie. Das macht sich nicht gut.« »Ich weiß.« Sie boxte ihn scherzhaft in den Arm. »Dummkopf! Ich miete mich irgendwo ein und bleibe tagsüber bei dir. Das wird bestimmt lustig, Bärchen. Ich kann das Essen kochen, während du dich um die Hühner kümmerst. Wir können so tun, als wären wir Mann und Frau.« Es hatte tatsächlich etwas Romantisches, wenn man es so sah. Und Norman war ja wirklich einsam. Die Leute in Sussex waren Fremden gegenüber misstrauisch, und die neuen Freunde, die sein Vater prophezeit hatte, waren nie erschienen. Das Einzige, was er davon hatte, dass er versuchte, auf eigenen Beinen zu stehen war elende Schufterei. Und die machte keinen Spaß, wenn man nicht ab und zu eine Ansprache hatte. Im Übrigen war er ein gesunder junger Mann. Er war zwar immer noch strenggläubig, die Vorstellung mit einer Frau allein zu sein, fand er dennoch aufregend. Er baute seine Wohnhütte nach demselben Muster wie seine Hühnerställe. Die Wände wurden aus Holz gezimmert, und ein schräges Dach mit hohem Giebel erzeugte im Inneren das Gefühl einer gewissen Weite. Zwei Balken, der eine über dem anderen, zogen sich quer durch die Mitte, um dem Bau Stabilität zu geben. Am einen Ende war ein Podest mit Matratze, das nachts als Bett diente und tags als Sofa, und am anderen Ende ein kleines Fenster, das etwas Licht hereinließ. Er trug ein paar Sachen zusammen, mit denen er den Raum möblierte, um ihn wohnlicher zu machen: einen Tisch und zwei Stühle, einen Ölofen, eine blecherne Waschschüssel und Matten für den Fußboden. Sonst aber war es so, wie er Elsie vorhergesagt hatte — ungemütlich und primitiv. Und wurde noch ungemütlicher durch die Kälte, als die Tage kürzer wurden und der Winter kam. Bis zum Frühjahr 1922 erlaubte er Elsie nicht, ihn zu besuchen. „Das Wetter ist zu schlecht”, schrieb er. „Es wird einem praktisch nie warm, und meistens mache ich mir nicht mal die Mühe, mich zu waschen. Manchmal glaube ich, dass die Hühner besser dran sind als ich. Sie können sich wenigstens zusammenkuscheln.” KAPITEL 3 Wesley Geflügelfarm, Blackness Road — Sommer 1922 Elsie liebte Normans kleine Hütte. So glücklich wie an den Wochenenden auf der Farm war sie noch nie gewesen. Sie nahm sich ein Zimmer bei Mr. und Mrs. Cosham, die ein Stück die Straße hinunter wohnten, und marschierte morgens zur Farm hinaus. Sie half beim Füttern und beim Einsammeln der Eier, aber sie war nicht bereit, die Hühnerhäuser sauber zu machen. »Von dem Geruch wird mir schlecht«, erklärte sie Norman mit gerümpfter Nase. »Außerdem kann ich mich nicht mit dem Gestank in den Kleidern in den Zug nach London setzen.« Norman machte das nichts aus. Er ließ Elsie gern herumsitzen und Däumchen drehen, Hauptsache, sie war hier. Ihre fröhliche Zuversicht war ansteckend, und allmählich glaubte er wirklich, dass das Unternehmen ein Erfolg werden würde. Zwar produzierte er mehr Eier, als er verkaufen konnte, aber die Junghähne und Bruthennen machten ihre Sache gut. Er hatte inzwischen Massen von Junghühnern, die er nur noch mästen und dann zum Kochen oder Braten verkaufen musste. Elsie fragte ihn, wie er sie töten würde. »Ich brech ihnen das Genick«, sagte er. »Mein Vater hat erzählt, seine Mutter in Schottland hat es immer mit dem Messer gemacht.« »Ich will kein Blut auf den Halsfedern haben.« »Musst du sie denn nicht sowieso rupfen, Schatz? Wer kauft schon ein ungerupftes Huhn?« »Nur der Rumpf muss gemacht werden, Else. Kopf und Hals lässt man, wie sie sind, damit der Metzger die Hühner ins Fenster hängen kann. Wenn Blut dran ist, schauen sie nicht so appetitlich aus.« Sie ging in die Hocke, um sich ein Nest voll flaumiger Küken anzusehen. »Die armen Kleinen.« »Du solltest lieber mich bedauern«, bemerkte Norman. »Ich werde bestimmt noch im Schlaf rupfen, wenn das Geschäft erst läuft. Die Federn lassen sich ziemlich leicht rausziehen, solange der Vogel noch warm ist, aber es ist trotzdem harte Arbeit.« »Da kommt eine ganze Menge Federn zusammen, Bärchen. Was machst du mit denen?« »Keine Ahnung.« Er sah sich um. »Vielleicht verbrenne ich sie. Dann wird's hier zwar eine Weile richtig stinken, aber ich bin sie wenigstens los.« Schwieriger war es mit dem verschmutzten Stroh aus den Hühnerställen. Er ließ es verrotten, um es als Kompost zu verkaufen, aber das war ein ziemlich langwieriger Prozess, und mit den ständig wachsenden Misthaufen sah die Farm noch schäbiger und heruntergekommener aus, als sie ohnehin schon war. Anfangs schien es Elsie nicht aufzufallen. Aber nach einigen Wochen begann sie zu nörgeln. »Deine Eier kauft doch niemand, der mal gesehen hat, woher sie kommen. Da muss man ja denken, dass sie schlecht sind. Du musst die Hühnerställe streichen. Sie müssen sauber aussehen.« »Das kann ich mir nicht leisten«, entgegnete er patzig. »Farbe kostet Geld.« »Lass dir von deinem Vater noch was geben.« »Der hat schon genug für mich getan.« Als ihre Nörgeleien ihm zu viel wurden, meinte er, sie könne ihm ja das Geld für die Farbe geben. »Du sagst immer, dass du heiraten willst, Elsie, aber dazu wird es nicht kommen, wenn die Farm Pleite macht. Ich weiß, dass du etwas Geld gespart hast. Es wird ja wohl nicht gleich die Bank sprengen, wenn du mir ein paar Pfund leihst.« »Mein Vater bringt mich um, wenn ich einem Mann Geld leihe, mit dem ich nicht verlobt bin«, erklärte sie geziert. »Da musst du mir schon zuerst einen Ring anstecken, Bärchen.« »Und womit soll ich den kaufen? Kennst du einen Juwelier, der Diamanten gegen Hühner tauscht?« Aber trotz gelegentlicher Streitereien übers Geld und Heiraten waren dieser Sommer und der Herbst eine glückliche Zeit. Im September und Oktober war das Wetter warm, und Elsie fuhr beinahe jedes Wochenende nach Sussex. Samstags faulenzten sie und Norman an einem Feuer vor der Hütte, wenn die Arbeit getan war. Sonntagmorgens gingen sie in die Methodistenkirche in der Ortsmitte und aßen anschließend das Mittagessen, das Elsie für sie gekocht hatte. Sie wurde sehr erfinderisch in der Zubereitung von Hühnchen. Meistens waren die Vögel alt und mussten erst mit Karotten und Zwiebeln weichgekocht werden. Aber ab und zu spendierte Norman einen jungen Gockel, der in Bauchspeck von der benachbarten Schweinefarm gebraten werden konnte. Es war mehr wie im Zeltlager als in einem richtigen Haushalt, aber Elsie meinte schwärmend: »Es ist wie in den Ferien«. Normans Vater hatte seinem Sohn einmal erklärt, dass es das Dümmste sei, sich im Urlaub zu verlieben. »Die Menschen sind anders, wenn sie von zu Hause weg sind, mein Junge. Du kannst nicht danach gehen, wie sich ein Mädchen im Urlaub an der See verhält.« Das ging Norman jedes Mal durch den Kopf, wenn Elsie vom Heiraten sprach. Wer war die richtige Elsie Cameron? Die launische, sprunghafte, die bei ihren Eltern in London lebte und ihre Arbeit hasste? Oder die Unbekümmerte, die ihn in Sussex besuchte und die Ehefrau spielte? Er wusste, dass sie beinahe genauso viel an den Akt dachte wie er. Manchmal, wenn er sie an sich zog, ihren Hintern umfasste und sein hartes Glied an sie drückte, kamen sie der Sache ganz nahe. Immer vergingen ein oder zwei Sekunden, bevor sie zu kichern begann und ihn wegstieß. »Du frecher Kerl«, sagte sie dann und drohte ihm mit dem Finger. »Erst musst du vor mir auf die Knie fallen und mir einen Heiratsantrag machen, Norman. Versprich mir, dass du mich zur Mrs. Thorne machst, dann überleg ich's mir vielleicht.« »Sobald ich hier einigermaßen über die Runden komme.« »Und wann soll das sein?« »Ich weiß es nicht. Ich tue, was ich kann.« »Das sagst du immer. Wenn du mich genauso sehr lieben würdest wie ich dich, würdest du mich in die Arme nehmen und mich trotzdem bitten, dich zu heiraten. Mir macht's nichts aus, in einer Hütte zu leben.« »So würdest du nicht reden, wenn du jeden Tag so leben müsstest, Elsie. Das ist was anderes als Urlaub. Wenn ich keinen Metzger finde, der mir meine Hühner abnimmt, muss ich mit den verflixten Biestern von Tür zu Tür hausieren gehen. Und niemand zahlt den vollen Preis — jedenfalls nicht, wenn die merken, wie dringend ich sie loswerden muss. Ein totes Huhn hält nicht lang.« Sie in der Hütte aufzuheben, ging nicht. Man hätte die toten Vögel höchstens am Mittelbalken aufhängen können, und in der Hitze wurden sie schnell schlecht. Er hatte es zwei- oder dreimal versucht, und die Kadaver am Ende jedes Mal auf dem Feld verscharren müssen. Kein Mensch wollte Geflügel haben, das nicht taufrisch war. Und zu allem Überfluss lockte der Verwesungsgeruch auch noch Füchse und Ratten an. Seine Geldprobleme waren so leicht nicht zu lösen. Es war naiv von ihm gewesen, die ganze Sache anzufangen, ohne sich vorher genauer über die Geflügelhaltung zu informieren. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er konnte sich nur damit trösten, dass er sich immer wieder sagte, am Ende werde schon alles gut werden. Er hatte gelernt, dass Gott denen hilft, die sich selbst helfen. Und dass Fleiß und harte Arbeit belohnt werden. Trotzdem fraß ihn die Sorge fast auf. Und wenn es nun gar nicht so war? Wenn Gott ihm vielmehr eine Lektion in Demut erteilen wollte? Wie sollte er seinem Vater die Vergeudung von einhundert Pfund erklären? Wie sollte er Elsie erklären, dass er sie vielleicht  nie würde heiraten können? Am tiefsten sank seine Stimmung stets in den Stunden vor dem Morgengrauen. Dann lag er wach und sah sich in einer Falle, die er sich selbst gestellt hatte. Wäre er Elsie nicht begegnet… hätte er seinen Vater nicht um Geld gebeten… wäre Elsie jünger gewesen und nicht so versessen darauf zu heiraten… Am ersten Weihnachtsfeiertag 1922 verlobten sie sich. Norman überließ es Mr. Cosham, seine Hühner zu füttern, und radelte über die Feiertage nach London. Er erzählte seinem Vater, die Geschäfte gingen so gut, dass er nun Elsie Cameron um ihre Hand bitten könne. Mr. Thorne sah ihn stirnrunzelnd an. »Bist du sicher, mein Junge? Als wir zuletzt miteinander gesprochen haben, hast du in einem Schuppen gehaust. Ist das inzwischen anders?« »Nein.« »Und du erwartest, dass eine Frau dieses Leben mit dir teilt?« »Wir verloben uns doch nur, Dad. Bis zur Hochzeit ist es noch eine Weile hin, und bis dahin habe ich bestimmt was zur Miete gefunden.« »Hm. Von wem stammt denn die Idee? Von dir oder von Miss Cameron?« Normans Gesicht bekam einen trotzigen Ausdruck. »Von mir.« Mr. Thorne glaubte ihm nicht. »Ändert es etwas, wenn ich mich weigere, dir meinen Segen zu geben? Ich kann durchaus verstehen, dass Miss Cameron dringend einen Ehemann sucht — sie ist fast fünfundzwanzig — , aber du bist erst zwanzig, mein Junge. Viel zu jung, um eine Familie zu gründen.« »Wir wollen ja gar nicht gleich Kinder haben.« »Du vielleicht nicht, mein Junge, aber Miss Cameron ganz sicher, wenn du mich fragst.« Norman sagte zähneknirschend: »Ich bin kein kleiner Junge mehr, Dad, und sie heißt Elsie. Kannst du nicht versuchen, sie so zu sehen wie ich? Sie ist herzensgut und will nur das Beste für mich.« »Das will ich auch, Norman.« »Es sieht aber manchmal nicht so aus.« Mr. Thorne betrachtete ihn einen Moment. »Hat Elsie dir hundert Pfund gegeben?« »Nein.« »Dann wirf mir nicht vor, dass ich mir nichts aus dir mache.« »Tu ich ja gar nicht«, entgegnete sein Sohn unglücklich. »Aber Geld ist nicht das Wichtigste im Leben, Dad.« Mr. Thorne schüttelte den Kopf. »O doch, ist es, wenn man sich auf etwas einlässt, was man sich nicht leisten kann. Wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, hilft dir die ganze Liebe nichts.« Wie anders ging es da bei der Familie Cameron zu, Elsies Vater schlug Norman auf die Schulter und sagte, er sei ein prima Kerl. »Unsere Elsie wollte immer schon heiraten. Sie bekam richtig Zustände, als ihr Bruder und ihre Schwester sich beide in diesem Jahr verlobt haben. Aber Ende gut, alles gut, sag ich immer. Wir freuen uns, dass Sie unser Schwiegersohn werden.« Mrs. Cameron umarmte ihn. »Sie sind ein guter Junge, Norman. Ich habe gewusst, dass Sie sich früher oder später zu unserer Tochter bekennen würden. Elsie kann es kaum erwarten, eine Familie zu gründen.« Norman lächelte verlegen. »Das wird noch eine Weile dauern, Mrs. Cameron. Zuerst brauchen wir ein Dach über dem Kopf.« Elsie hakte sich bei ihm ein und spreizte die Finger, so dass der Feuerschein auf ihren Ring fiel. »So lange auch wieder nicht, Bärchen. Wer seiner Liebsten so einen Ring anstecken kann, der kann auch ein kleines Häuschen für sie finden, meinst du nicht?« Norman dachte mit schlechtem Gewissen an die fünf Pfund, die er bei einem Geldverleiher aufgenommen hatte, um den Ring kaufen zu können. »Im nächsten Jahr vielleicht.« Er meinte, nach einem Ablauf von mindestens zwölf Monaten, sprach also von 1924. Die Camerons glaubten, er meinte 1923. Elsies beide Geschwister wollten in diesem Jahr heiraten, warum nicht auch sie? Den ganzen ersten Weihnachtsfeiertag drehten sich die Gespräche um nichts anderes als Hochzeitskleider und Kinder. Norman trieb das nur dazu, den Kopf in den Sand zu stecken. Es war einfacher, immer nur zu nicken, statt ständig zu erklären, dass er sich Frau und Familie vorläufig nicht leisten konnte. Es beunruhigte ihn ein wenig, wie versessen Mr. und Mrs. Cameron allem Anschein nach darauf waren, ihre Tochter loszuwerden. »Wenn sie erst einmal aus London heraus ist, wird sie sicher ruhiger werden«, sagte Mrs. Cameron. »Der Krach hier und die vielen Leute schlagen ihr aufs Gemüt. Lassen Sie sie nur nicht zu lange warten, Norman.« Mr. Cameron sprach nach dem Mittagessen unter vier Augen mit ihm. »Elsie hat manchmal so fixe Ideen — aber das wissen Sie ja schon. Widersprechen Sie ihr dann lieber nicht. Man fährt am besten, wenn man ihr ihren Willen lässt.« »Ich werde mich bemühen, Sir.« »Braver Junge. Wenn Sie es irgendwie schaffen, mit ihr vor den Altar zu treten, ehe es bei ihren Geschwistern so weit ist, werden Sie sie zur glücklichsten Frau auf Erden machen.« Norman wusste, dass das ausgeschlossen war, aber er sagte es nicht. Mit der Naivität des Zwanzigjährigen hoffte er, die ganze Sache werde einfach vorbeigehen. Solange kein Tag festgesetzt war, meinte er, könne er bis auf alle Ewigkeit auf Zeit spielen. Man konnte keinen zwingen zu heiraten, bevor er dazu bereit war.  ~~~ 86 Clifford Gardens Kensal Rise London 30. Januar 1923 Mein liebster Norman, jetzt ist das Schlimmste überhaupt passiert. Mr. Hanley hat mir heute gekündigt, Deine kleine Elsie hat also keine Arbeit mehr. Er war so gemein, Liebster. Er hat gesagt, dass er mich wegen der anderen entlässt. Sie haben wieder Lügenmärchen über mich erzählt, und nur, weil sie es nicht ertragen können, dass ich glücklich bin. Sie sind neidisch auf meinen Ring und neidisch, dass ich verlobt bin. Ich hasse sie alle miteinander. Mein Vater sagte, ich muss mir eine neue Stellung suchen, aber das muss ich nicht, wenn wir bald heiraten können. Bitte sag, dass das geht. Ich kann es nicht erwarten, Deine Frau zu werden, Bärchen. Ich könnte mir in Deiner Nähe eine Stellung als Stenotypistin suchen und jeden Abend heim in die Hütte kommen. Wir schaffen das leicht, wenn ich verspreche, mit Kindern ein oder zwei Jahre zu warten. Ach, mein Liebster, ich liebe Dich so sehr. Bitte, bitte sag ja. Deine Dich liebende      Elsie xxx ~~~  Blackness Road Crowborough Sussex 3. Februar 1923 Liebe Elsie, Es tut mir leid, dass Du Deine Arbeit verloren hast, aber ich finde, Dein Vater hat recht. Du musst Dir in London eine neue Stellung suchen. In der Hütte kann man nicht leben, und keine Ehefrau kann versprechen, keine Kinder zu bekommen. Sie kommen einfach, ob es einem nun passt oder nicht. Zur Zeit ist es so kalt, dass das Trinkwasser für die Hühner jede Nacht gefriert. Ich muss im Mantel schlafen, um nicht auch zu Eis zu erstarren. Das würde Dir überhaupt nicht gefallen. Und niemand stellt eine Stenotypistin ein, die weder sich selbst noch ihre Kleider ordentlich waschen kann. Geduld ist eine Tugend, Elsie. Wenn wir jetzt heiraten, werden wir bestimmt nicht so glücklich werden, wie wenn wir damit noch etwas warten. Deshalb ist es meiner Ansicht nach besser, geduldig zu sein. Ich wünsche Dir, dass Du schnell eine neue Arbeit findest. Dein Dich liebender      Norman KAPITEL 4 Wesley Geflügelfarm, Blackness Road — Sommer 1923 Mit der Zeit graute Norman vor Elsies Wochenendbesuchen. Die Fröhlichkeit des vergangenen Jahres war Wutausbrüchen und tiefer Niedergeschlagenheit gewichen. Sie nörgelte ständig an ihm herum: weil er sich weigerte, einen Hochzeitstermin festzusetzen; weil er kein Geld hatte; weil sie sich elend fühlte, was, wie sie sagte, seine Schuld war. Plötzlich konnte sie sich in keiner Stellung länger halten. Nachdem sie neun Jahre lang bei derselben Firma gearbeitet hatte, war ihr jetzt innerhalb von fünf Monaten dreimal gekündigt worden. Auch daran gab sie Norman die Schuld. »Dauernd fragen sie mich, wann ich heirate, und ich kann ihnen keine Antwort geben«, sagte sie. »Hinter meinem Rücken lachen sie mich aus.« »Bestimmt nicht, Else. Jeder weiß doch, dass man erst ein bisschen was auf der hohen Kante haben muss, wenn man heiraten will. Es gibt massenhaft Burschen und Mädchen, denen es genauso geht wie uns.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Doch, sie machen sich über mich lustig — und dafür hasse ich sie. Ich kann nicht in einem Büro arbeiten, wo die Leute mich dauernd schief anschauen.« »Bist du sicher, dass es nicht von dir ausgeht? Wenn man jemanden schief ansieht, sieht der dich natürlich auch schief an. Ist doch klar.« Aber solche Dinge sagte man besser nicht. Mr. Cameron hatte ihn ja schon darauf hingewiesen, dass man seiner Tochter am besten ihren Willen ließ. Und ihr „ihren Willen lassen” bedeutete, dass Norman allem zustimmen musste, was sie sagte. Elsie hatte niemals Schuld. Wenn in ihrem Leben etwas schiefging, waren immer die anderen schuld. Manchmal glaubte Norman es sogar. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr zuerst Hoffnungen gemacht und diese dann wieder zerstört hatte. Aber wenn er sich nicht mit ihr verlobt hätte, wäre sie noch unglücklicher gewesen. Ein Ring bewies, dass er sie liebte. Und erlaubte ihm, sie zu berühren. War das vielleicht einer der Gründe, warum ihm auf einmal vor ihren Besuchen graute? Es blieb jetzt nicht mehr dabei, dass er sich brav an ihren bekleideten Körper drückte. Nun durfte er sie entkleiden und ihre nackte Haut fühlen, wenn sie in Stimmung war. Mehr allerdings durfte er nicht. Wenn er ihr seine Liebe wirklich beweisen wollte, musste er ihr zeigen, dass er seine Triebe beherrschen konnte. »Ich bewahre mich für unsere Hochzeitsnacht, Bärchen. Eine Frau muss rein in die Ehe gehen. Du darfst alles andere, nur nicht mit mir schlafen. Das wäre eine Sünde.« Wenn sie nicht da war, träumte er von ihr, und wenn sie da war, packte ihn die Wut. »Erst reizt du mich und dann schreist du „Hände weg!”«, sagte er jedes Mal wütend, wenn sie ihn wegstieß. »Das kannst du nicht machen. Ich habe Gummis. Warum nehmen wir die nicht?« »Das ist unanständig.« »Ist doch egal.« »Ich will darüber nicht reden.« »Gut, dann nehmen wir eben keine Gummis. Ich habe versprochen, dass ich dich heirate, wovor hast du dann solche Angst? Ich lass dich nicht im Stich.« »Bis jetzt hast du nichts andres getan«, entgegnete sie eingeschnappt, stieg in ihr Kleid und zog es über. »Wenn du einen Tag festsetzen würdest, könnte ich es mir überlegen, aber ich verschenk mich doch nicht für einen billigen Ring.« »Letzten Sommer hast du anders geredet. Letzten Sommer hast du gesagt, du würdest es dir überlegen, wenn ich dir verspreche, dich zu heiraten.« »Dann heirate mich.« »Wozu? Du tischst mir ja doch nur die nächste Ausrede auf. Woher soll ich wissen, dass du es überhaupt jemals tust, Else?« »Ich will schließlich ein Kind.« »Und was passiert, wenn du es hast? Manchmal glaube ich, du willst nur ein neues Spielzeug, an dem du deine Launen auslassen kannst.« Es waren fruchtlose Auseinandersetzungen, die zu nichts führten und sie nur gegeneinander aufbrachten. Beide waren sexuell frustriert. Norman versuchte, damit fertig zu werden, indem er noch härter arbeitete. Elsie schwankte zwischen Stimmungen dumpfer Niedergeschlagenheit und romantischer Schwärmerei, der sie in ihren Liebesbriefen Luft machte. Ach, mein liebster Schatz… unsere Liebe ist wie ein Märchen, und eines Tages wird es von uns heißen, „sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende”… Ich bete dich an, mein Geliebter… Du bist mein Ein und Alles. Ich weiß, wir werden in Deiner kleinen Hütte zurechtkommen… und Elsie verspricht Dir, Dich immer zu lieben… Ach, mein Liebster, Du ahnst ja nicht, wie viel Du mir bedeutest… Ich träume von dem Tag, an dem wir zusammen sind. Auf immer und ewig, Deine einzige wahre Liebe, Elsie Norman wusste nicht, was er von solchen Briefen halten sollte. Er hatte den Eindruck, dass Elsie sich, sicher daheim in London, in die Rolle einer Märchenprinzessin hineinsteigerte. Vergessen war das harte Leben auf der Farm, sie sah nur idyllische Schönheit. Aber wie sollte er sie glücklich machen, wenn die Wirklichkeit — Schmutz, Gestank und Schulden — so anders aussah? Die ständigen Schwankungen in der Beziehung belasteten Norman. Aber noch mehr belasteten ihn seine fortwährenden Geldsorgen. So sehr er sich anstrengte, er kam auf keinen grünen Zweig. Seine Konkurrenten waren Bauern und Züchter mit lange bestehenden Verträgen, und es gab keine Nachfrage nach Geflügel und Eiern von der Wesley Farm. Hätte er das Unternehmen besser geplant, so hätte er erst einmal die Gegend abgefahren und die örtlichen Geflügelfarmen gezählt. Und dazu die Höfe, auf denen Hühner gehalten wurden. Aber er hatte das Gelände an der Blackness Road völlig blind gekauft. Er machte Schulden bei den Futtermittelherstellern. Lieh sich Geld, um sie zu bezahlen. Er versuchte sich einzureden, es wäre gut angelegtes Geld, wenn es am Ende Gewinn brachte. Er brauchte nur einen einzigen guten Vertrag mit einem Metzger, den er allwöchentlich beliefern konnte. Aber er musste immer an die Worte seines Vaters denken. „Wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, hilft dir die ganze Liebe nichts.” Während das Weihnachtsfest 1923 langsam näher rückte, wurde Elsie immer verzweifelter. Sie war seit Monaten arbeitslos und, seit ihr Bruder und ihre Schwester geheiratet hatten, allein mit ihren Eltern. Jetzt machten auch Mr. und Mrs. Cameron Norman die Hölle heiß. Sie waren so unnachgiebig wie ihre Tochter. Wann würde er Elsie endlich heiraten und zur ehrbaren Frau machen? Ebenso gut hätten sie fragen können: Wann nimmst du uns Elsie endlich ab? So sah es jedenfalls Norman. Je weniger er sich bereit zeigte, einen Termin festzulegen, desto härter setzten Elsies Eltern ihm zu. »Sie brechen unserer Tochter das Herz«, sagte Mr. Cameron am ersten Weihnachtsfeiertag kalt. »Darf ich Sie daran erinnern, dass mittlerweile zwölf Monate seit der Verlobung vergangen sind.« »Das weiß ich ja, Sir.« Norman holte tief Atem, um Ruhe zu bewahren. »Aber wie ich mehrmals erklärt habe, kann ich im Moment nicht heiraten. Ich brauche -« »Warum«, unterbrach Mr. Cameron, »haben Sie ein Versprechen gegeben, wenn Sie nicht daran dachten, es einzulösen?« Mir wurde ja keine Wahl gelassen… Elsie hat mich da hineingetrieben… Ich hätte auf meinen Vater hören sollen… »Ich dachte, die Farm würde dieses Jahr etwas abwerfen. « »Hat sie aber nicht?« »Es kann sich nur noch um Monate handeln, Sir. Wenn Sie Elsie überreden könnten, noch ein wenig zu warten -« »Es ist nicht meine Aufgabe, Elsie zu irgendetwas zu überreden«, fuhr Mr. Cameron Norman an. »Meine einzige Pflicht ist es, Sie daran zu erinnern, dass Sie gesetzlich verpflichtet sind, sie zu heiraten, oder wegen Bruch des Eheversprechens vor Gericht landen werden.« Normans Miene wurde trotzig. »Elsie war doch diejenige, die sich unbedingt verloben wollte. Mir war's recht so wie's war. Außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich nicht mehr will. Ich bitte nur um ein wenig mehr Zeit.« »Aber die hat Elsie nicht, Norman. Sie wird im April sechsundzwanzig.« »Das sieht man ihr doch nicht an.« »Schön, aber darum geht es nicht. Sie hat das Gefühl, dass das Leben an ihr vorbeigeht. Ihr Bruder und ihre Schwester sind jetzt verheiratet.« Mr. Cameron seufzte. »Sie behauptet, dass alle über sie lachen, weil sie sitzen geblieben ist.« Norman verspürte einen Anflug von Mitleid mit dem Mann. Er wusste, wie schwierig Elsie sein konnte, wenn sie glaubte, man mache sich über sie lustig. Aber das Mitleid legte sich schnell wieder. Seiner Meinung nach hatten Mr. und Mrs. Cameron selbst Schuld daran, wie Elsie geworden war. Wenn sie sie nicht so verwöhnt und ihr immer ihren Willen gelassen hätten, wäre Elsie nie so launisch geworden. Doch er selbst verhielt sich nicht viel anders. Was sollte ein Mann auch tun, wenn seine Freundin sich weinend in den Schmollwinkel zurückzog und drohte, sich das Leben zu nehmen? Sein Vater bemerkte schnell sein abflauendes Interesse. »Du bist aber früh wieder da«, sagte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr, als Norman am Weihnachtstag am Nachmittag nach Hause kam. »Verbringst du den Abend nicht mit Elsie?« »Nein.« Norman setzte sich in einen Sessel am Feuer. »Ich muss zeitig ins Bett. Ich muss ja morgen zurückradeln. « »Ich dachte, du wolltest länger bleiben.« »Hab's mir anders überlegt.« Sein Vater musterte ihn einen Moment. »Hast du dich mit Elsie überworfen?« »Nicht direkt.« »Was gibt's dann für Schwierigkeiten?« »Das Übliche. Ich kann mir die Heirat noch nicht leisten.« Ein kurzes Schweigen folgte. »Ist das der wahre Grund dafür, dass du die Hochzeit immer wieder aufschiebst?«, fragte sein Vater dann. »Was für einen Grund sollte es sonst haben?« »Dass du sie nicht mehr liebst.« Er beugte sich vor, um seinen Sohn genau anzusehen. »Wenn es so ist, wäre es anständiger, gleich ehrlich mit ihr zu sein. Dann findet sie vielleicht noch einen anderen.« »Sie will keinen anderen, Dad. Sie ist verrückt nach mir. Sagt immer, sie bringt sich um, wenn ich sie sitzen lasse. Sie verfällt manchmal in solche Stimmungen, wo sie sich einbildet, die ganze Welt wäre gegen sie.« Er ließ seine Arme zwischen seinen gespreizten Knien abwärts gleiten und hob einen Fussel vom Teppich auf. »Mr. Cameron hat gesagt, dass er mich wegen Bruchs des Eheversprechens verklagt, wenn ich sie nicht heirate.« Mr. Thorne lächelte dünn. »Lass dir mal davon keine Angst machen, mein Junge. Das ist nichts als leere Drohung. Kein Mensch schleppt jemanden vor Gericht, wenn dabei kein Geld herauszuschlagen ist. Und Geld hast du nun weiß Gott keines.« »Ich möchte nicht gemein zu ihr sein, Dad. Ich mag sie immer noch gern.« »Sicher, das glaube ich dir, mein Junge. Aber es wäre grausam, sie zu heiraten — und dann ein Leben lang zu wünschen, du hättest es nicht getan.« Der Gedanke, dass es anständiger wäre, Elsie schonend beizubringen, dass es aus war, nistete sich bei Norman ein. Er sagte, sie solle ihn wegen der Winterkälte vorläufig nicht besuchen, und schrieb ihr nicht mehr so oft. Seine Briefe waren jetzt kühl und förmlich und sprachen nie von Liebe. Er hoffte, sie würde den Wink verstehen und von selbst Schluss machen. Das tat sie nicht. Während seine Leidenschaft nachließ, nahm die ihre zu. Ihre Antworten auf seine Briefe glühten vor Liebe. „Ich bete Dich an… Ich vergöttere Dich… Ich kann den Frühling nicht erwarten…” Es war, als glaubte sie, das Feuer ihrer Gefühle könnte sich durch das Papier hindurchbrennen und lodernd Normans Herz erfassen. Wie hätte ein Mann einer Frau, die ihn so heiß liebte, widerstehen können? Häufig machte Norman die Briefe gar nicht auf. Schon beim Anblick ihrer Handschrift auf dem Umschlag bekam er Magenschmerzen. Mit solchen Gefühlen konnte er nicht umgehen. Er fühlte sich vereinnahmt und in die Ecke gedrängt von dem falschen Bild, das Elsie von ihm zeichnete. Er war ein gescheiterter Geflügelzüchter mit einem Haufen Schulden, der seiner Verlobten müde war. Wieso nannte sie ihn da immer noch ihren „geliebten klugen Ehemann” und sich selbst „seine einzige kleine Frau”? Sobald das Wetter besser wurde, kam sie für ein Wochenende nach Sussex. Er versuchte, ihr beizubringen, dass er die Beziehung beenden wollte. Aber sie reagierte völlig hysterisch, stampfte mit dem Fuß auf und fiel wütend über ihn her. »Ich will nicht reden. Hältst du mich für blöd? Glaubst du, ich weiß nicht, was los ist?« Norman schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Was meinst du?« »Schau dir die Laken an«, zischte sie. »Da haben andere Frauen drauf geschlafen.« Sie riss die Wäsche vom Bett und schleuderte sie an die Wand. »Sie sind dreckig. Du bist dreckig.« Ihr dünner Körper bebte vor Wut. »Du hast unseren Platz beschmutzt. Es ist abscheulich — widerlich.« Er starrte sie mit offenem Mund an. »Du spinnst ja. Ich kenne überhaupt keine anderen Frauen — jedenfalls nicht von der Seite.« »Auch keine Prostituierten?«, kreischte sie. »Du verschwendest dein Geld an Huren, Norman. Ich weiß es. Deshalb hast du nie Geld.« »Ich glaube, du solltest mal deinen Kopf anschauen lassen, Elsie«, sagte er abgestoßen. Sie fing an, hysterisch zu weinen, und warf sich an seine Brust. »Entschuldige — es tut mir leid, Bärchen. Du weißt ja nicht, wie das ist, wenn ich nicht bei dir sein kann. Ich werde so schwermütig. Und so eifersüchtig.« Er umarmte sie steif. »Es gibt keinen Grund zur Eifersucht.« »Aber das weiß ich ja nicht«, entgegnete sie und schlang ihm die dünnen Arme um die Mitte. »Ich stell mir dauernd vor, du tust mit anderen Frauen das Gleiche, was du mit mir tust. Es ist so schön, Liebster. Ich mag es.« Sie zog ihn fester an sich. »Du magst es doch auch, nicht?« Sie wollte seine Hand zu ihrer Brust führen, aber er zuckte zurück, wie vom elektrischen Schlag getroffen. »Nicht«, sagte er scharf. »Warum nicht?« »Weil es nicht in Ordnung ist.« Ihre Augen hinter den Brillengläsern blitzten ärgerlich. »Letztes Jahr fandest du es aber völlig in Ordnung. Du kannst nicht mit mir rummachen und dann so tun, als wäre nichts gewesen, Norman. Ich bin kein billiges Flittchen, das du einfach abservieren kannst, wenn dir langweilig wird. Ich bin die Frau, die du heiraten willst.« Er wandte sich zur Tür. »Ich muss die Hühnerställe sauber machen«, brummte er. »Wir reden nachher.« Norman stürzte sich in die Arbeit, um sich Elsie vom Leib zu halten. Sie sah ihm von der Hüttentür aus teilnahmslos zu. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ihr ins Gesicht sagen, dass es vorbei war? Oder weiter hoffen, dass sie es von selbst begreifen würde? Selbst Elsie, so eigen sie war, musste doch einsehen, dass es keinen Sinn hatte, einen Mann zu heiraten, der sie nicht liebte. Aber am Abend benahm sie sich, als wäre nichts geschehen. Das Bett war frisch gemacht, und Norman war wieder ihr „einziger liebster Schatz”. Es war, als hätte sie den ganzen Tag darauf verwendet, sich zu überlegen, wie sie ihn wieder für sich gewinnen konnte. Keine bösen Blicke. Kein Aufstampfen. Keine Berührungen. Nur kräftiges selbstgekochtes Essen und viel heiteres Lachen — und ein endloser Schwall zärtlicher Worte. Irgendwie empfand Norman es als beleidigender, als wenn sie sich ihm mit Gewalt aufgedrängt hätte. Denn es unterstellte, dass er oberflächlich und gefühllos war. Glaubte sie wirklich, dass für ihn die Liebe einzig durch den Magen ging? Und dass Mahlzeiten mit Lächeln und albernen Koseworten aufgetragen werden sollten? Als er sie am Sonntagnachmittag endlich zum Bahnhof brachte, war er nahe daran, sie zu erwürgen. Wieso merkte sie nicht, wie sehr sie ihn abstieß? Mehr als alles andere verabscheute er die Berührung ihrer rissigen, abgekauten Fingernägel auf seiner Haut. KAPITEL 5 Crowborough — Sommer 1924 Pfingsten lernte Norman bei einer Tanzveranstaltung Bessie Coldicott kennen. Es war kurz nach dem Wochenende mit Elsie. Bessie war das genaue Gegenteil von Elsie. Sie war jung. Sie war hübsch. Sie war herzlich und verständnisvoll. Und sie flirtete gern. Das Beste war, dass sie Norman nahm wie er war — als einen jungen Mann, der in schwierigen Zeiten versuchte, sich eine Existenz aufzubauen. Er fand es wunderbar, dass sie so gar nichts von ihm verlangte. Bessie war nicht ständig von der Angst geplagt, sitzen zu bleiben; mit ihr ließ sich über all die Dinge reden, die nichts mit Hochzeitsglocken zu tun hatten. Plötzlich konnte Norman so sein, wie er gern sein wollte. Ein bisschen Teufelskerl. Ein bisschen Spaßvogel. Es war wie eine Wiedergeburt. Statt wie bei Elsie immer wieder in dumpfes Schweigen zu verfallen, war er in Bessies Gegenwart vergnügt und komisch. Keine Woche nach dem Tanzabend begannen sie, sich regelmäßig zu sehen. »Bin ich deine erste Freundin?«, fragte sie ihn eines Tages. »Nein.« »Wie waren die anderen?« »Konnten dir nicht das Wasser reichen. Die Erste sah aus wie ein Pferd.« Er lachte. »Die Zweite wie ein Pferdearsch.« Bessie tänzelte ihm davon. »Ich glaube dir nicht. Sie waren bestimmt hübsch, und du hast bestimmt mehr als zwei gehabt. Heute können die Männer sich's doch aussuchen.« »Ich war ein Spätzünder… aber jetzt hole ich auf.« Er lief ihr nach und fasste sie um die Taille. »So zum Beispiel.« Er küsste sie auf die vollen, weichen Lippen. Ihre Augen blitzten übermütig. »Bild dir bloß nichts ein, Norman Thorne. Ich habe genug andere Verehrer, und ein paar von ihnen mag ich genau so gern wie dich.« Das wusste er. Alle Männer fanden Bessie attraktiv. Das war Teil ihres Reizes. Die Jagd. Der Kitzel des Wettstreits um sie. Wenn Elsie von anderen Männern auch so angesehen worden wäre, hätte er sie vielleicht mehr geschätzt. Aber nach Elsie hatte sich nie einer umgedreht. Jedes Mal, wenn ein Brief von Elsie kam, hatte Norman Gewissensbisse, weil er sie zappeln ließ. Aber wie allen Moglern war ihm das eigene Glück am wichtigsten. An den zwei oder drei Wochenenden, an denen Elsie in diesem Sommer herunterkam, schaffte er es, allzu heftige Streitereien zu meiden und sie bei Laune zu halten. Ihre Stimmungen konnten ihm nicht mehr so viel anhaben, seit er wusste, dass er später, wenn sie weg war, mit Bessie zusammen sein und lachen konnte. Am schwierigsten war es, sich Elsie in der Hütte vom Leib zu halten. Sie bedrängte ihn unablässig, drückte sich an ihn und bat ihn, sie zu entkleiden, wie er das früher immer getan hatte. Sie erklärte, sie habe sich verändert. »Ich habe jetzt keine Angst mehr vor dem Akt, Schatz«, lockte sie. »Das ist etwas ganz Natürliches, wenn zwei Menschen sich lieben.« »Und wenn du schwanger wirst?« »Du kannst einen Gummi nehmen, wenn du willst.« »Ich habe keine mehr«, log er. »Ich habe sie weggeworfen. Aber es ist sowieso zu gefährlich, Else. Dein Vater macht einen Riesenkrach, wenn du plötzlich mit einem unehelichen Kind dastehst.« »Das ist mir gleich, Bärchen. Ich möchte dir zeigen, wie viel du mir bedeutest. Und wie soll ich das tun, wenn ich mich dir nicht hingebe?« Tränen traten ihr in die Augen. »Bitte, Norman, tun wir's doch. Du sollst jetzt schon wissen, wie gut ich für dich sein werde.« Er war schlau genug zu erkennen, dass dies nicht der wahre Grund dafür war, dass sie mit ihm schlafen wollte. In seinen Augen wurde ihre Beziehung zur Schachpartie, bei der jeder sich bemühte, den anderen in die Ecke zu drängen. Norman wollte Elsie zu der Erkenntnis bringen, dass keine Zukunft mit ihm auf sie wartete. Und Elsie wollte Norman mit einer Schwangerschaft an sich binden. In den dunklen Nachtstunden versuchte Norman oft, sich einzureden, dass er Elsie heiraten sollte. »Besser der Teufel, den du kennst, als der, den du nicht kennst«, sagte er laut vor sich hin. Er hatte vier Jahre lang sein Leben mit ihr geteilt. Sie wusste mehr über ihn als sonst ein Mensch auf Erden. Es gab sogar Momente, da machte ihm der Gedanke, dass sie nicht mehr da sein würde, Angst. Vielleicht würde er auch Bessies überdrüssig werden. Manchmal fragte er sich, ob er sich überhaupt etwas aus Frauen machte. Seine Hühner brachten ihm mehr Zuneigung entgegen als die Menschen. Es griff ihm immer noch ans Herz, wenn er ihnen die Hälse umdrehen und ihr schönes Federkleid rupfen musste. Er liebte es zu sehen, wie sie angerannt kamen, wenn er nach ihnen rief. Mit langen Hälsen und strampelnden Beinen. Die jungen trippelten so schnell, dass sie über seine Füße fielen, wenn er ihnen entgegenging. Manche waren so zutraulich, dass sie sich streicheln ließen, andere flohen ängstlich piepsend. Er hatte einen jungen Hahn, der ein richtiger Kampfhahn war, ein Welsummer mit blauschwarzem Schwanzgefieder und einem prächtigen roten Kamm. Norman nannte ihn Satan, wegen des Bösen, das in seinen runden Augen lauerte. Wenn ein Junghahn im Nachbarauslauf sich zu nahe heranwagte, sprang Satan gegen den Maschendraht und versuchte, ihn anzugreifen. Er wachte eifersüchtig über seine Hennen. Norman bewunderte das. Und er bewunderte Satans ausgeprägten Geschlechtstrieb, dem zu verdanken war, dass unter seinen Hennen kaum welche unbefruchtete Eier legten. Das war ganz anders als bei Normans Buff Orpington und Leghorn Hähnen, die, sanfter geartet, eher faul waren. Das hieß aber nicht, dass Norman den Hahn mochte. Er war vor ihm auf der Hut wie vor einer Schlange, nachdem der Vogel ihn einmal von hinten angegriffen hatte. Satan hatte Norman seine scharfen Sporne in die Wade geschlagen, und die Verletzung tat tagelang weh. »Ich verstehe nicht, warum du ihn nicht schlachtest«, sagte Elsie. »Wozu?« »Damit er's endlich lernt.« »Was soll er denn noch lernen, wenn er tot ist? Und was würde mir das nützen? Höchstens ein Irrer würde seinen besten Zuchthahn schlachten.« »Du solltest ihm trotzdem eine Lektion erteilen.« Norman sah sie ärgerlich an. »Das sind Hühner, Elsie. Ihr Gehirn ist ungefähr so groß.« Er zeigte eine winzige Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger an. »Sie lernen, wo sie ihr Futter finden, und sie lernen, ihre Eier in die Nistkästen zu legen. Aber damit hat sich's auch schon.« »Du brauchst nicht gleich so gereizt zu werden. Ich wollte nur helfen.« »Na ja — es ist eine dumme Idee. Außerdem war es sowieso meine eigene Schuld. Ich habe ihn geärgert. Er wird immer eifersüchtig, wenn seine Hennen mir aus der Hand fressen.« »Dann kann sein Gehirn so klein nicht sein«, meinte sie bissig. »Ist Eifersucht nicht eine menschliche Regung?« Normans Gereiztheit wuchs. »Woher soll ich das wissen?«, fragte er schroff. »Ich hatte nie Anlass zur Eifersucht.« Er hatte gelogen. Er war eifersüchtig auf jeden Mann, der Bessie Coldicott zum Lächeln bringen konnte. Sie war Schneiderin in Crowborough, und er begann, draußen vor dem Laden herumzulungern, in dem sie arbeitete. Sie neckte ihn deswegen. »Was hast du denn so oft in meiner Straße zu tun? Der nächste Metzgerladen ist doch zwei Straßen weiter.« »Es ist eine Abkürzung.« »Schwindler.« Sie klopfte ihm leicht aufs Handgelenk. »Du bringst mich in Schwierigkeiten, wenn du das zu oft machst. Mrs. Smith ist eine nette Frau, aber sie mag es nicht, wenn Männer durch das Fenster glotzen. Das stört die Kunden.« »Ich möchte dir nur ab und zu guten Tag sagen.« Sie lachte. »Aber nicht während meiner Arbeitszeit, Norman. Ich mag meine Arbeit und möchte sie nicht verlieren. Du kannst mich ja mal abends hinten im Hof abholen. Und mich nach Hause begleiten.« Im Lauf des Sommers verbrachte er immer mehr Zeit mit ihr. Wiederholt bat er sie, ihn auf dem Hof zu besuchen, aber sie lehnte ab. »Du lebst allein, Norman. Die Leute würden tratschen.« »Wer soll dich schon sehen? Es ist mitten in der Wildnis.« »Irgendeiner sieht einen immer. Alte Weiber, die nichts anderes zu tun haben, als hinter den Gardinen zu stehen und ihre Nachbarn zu bespitzeln. In einem Nest wie diesem tratschen alle.« Er fragte sich, ob sie von Elsie wusste. »Und was sagen sie?« »Dass bei dir ein paar Mal eine Frau zu Besuch war. Stimmt das?« Er hatte immer gewusst, dass es früher oder später herauskommen würde. Er holte tief Atem. »Ja, aber da war überhaupt nichts dabei, Bessie. Sie hat nie in der Hütte übernachtet. Es war alles völlig harmlos.« »Was ist das für eine Frau?« »Ich kenne sie aus London. Ich war einmal in sie verliebt, aber das ist vorbei. Das Dumme ist nur -« Er brach ab. »Sie ist ein bisschen verdreht. Benimmt sich oft wie eine Verrückte — schreit und keift und fängt in der nächsten Minute an zu heulen. Deswegen fliegt sie auch aus jeder Arbeit raus.« Bessie zog ein Gesicht. »So eine Frau wohnt bei uns in der Straße. Man braucht sie nur anzureden, und sie bricht in Tränen aus. Mein Vater meint, das kommt, weil sie im Krieg zwei Söhne verloren hat, aber meine Mutter hat gesagt, sie ist schon so seltsam auf die Welt gekommen. Sie war vor dem Tod ihrer Söhne auch schon so.« »Elsie ist immer sonderbar gewesen.« »So heißt sie?« Norman nickte. »Elsie Cameron. Hauptsächlich wollten ihre Eltern, dass sie mich besucht. Ich schätze mal, sie haben gehofft, ich werde ihnen Elsie abnehmen und sie heiraten. Sie ist viel älter als ich, und sie haben es satt, sich ständig um sie kümmern zu müssen.« »Das ist ja schrecklich.« Ja, dachte Norman. Es war wirklich schrecklich. Wie kamen Mr. und Mrs. Cameron darauf, dass er ihnen das Leben erleichtern sollte, indem er ihre verrückte Tochter heiratete? Schließlich hatte doch nicht er sie zur Welt gebracht. Schließlich hatte nicht er sie so verwöhnt. Er ergriff Bessies Hand. »Keine Sorge, Bärchen. Das passiert bestimmt nicht. Ich habe große Pläne für die Zukunft — und Elsie passt da nirgends rein.« »Und ich? Passe ich in deine Pläne?« »Vielleicht.« Sie kniff ihn unvermittelt in die Hand. »Dann nenn mich nicht „Bärchen”, Norman. Ich bin kein Kuscheltier, das du streicheln und knutschen kannst, wenn du gerade Lust hast. Ich bin ich — und ich gehöre niemandem.« KAPITEL 6 Wesley Geflügelfarm, Blackness Road — Herbst 1924 Anfang September kam Bessie zum Tee. Sie gab Norman einen Tag vorher Bescheid, und er nutzte die Nacht und den Morgen, um die Hütte sauber zu machen. Sie war unglaublich verwahrlost. Der Boden war voller Hühnerkot, den er an seinen Stiefeln hereingetragen hatte, und überall lag dicker Staub. Entsetzt darüber, wie sein Bettzeug aussah, radelte er in den Ort und kaufte neues. Danach war sein Geldbeutel leer, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Bessie sich auf ein Bett setzen würde, das nach Schweiß und Schmuddel roch. Er faltete die schmutzigen Laken zusammen und versteckte sie in einem leeren Nistkasten. Vor Elsies nächstem Besuch würde er sie wieder austauschen, sonst erriet sie womöglich, dass eine andere Frau bei ihm gewesen war. Sein Fleiß lohnte sich, Bessie war beeindruckt von seiner Hütte. »Es ist richtig gemütlich. Wie lange lebst du schon hier?« »Seit zwei Jahren.« »Und du frierst nicht?« »Doch, im Winter.« Sie schaute zu dem Balken über ihrem Kopf hinauf, wo er seine Hüte aufbewahrte. »Das ist ja raffiniert. Und wo hast du deine Kleider?« »Da hinten.« Er hob einen Vorhang, der über einer Wand festgemacht war. »Sie hängen auf Haken, und der Vorhang schützt vor dem Staub.« »Raffiniert«, sagte sie wieder. »Und was hast du da drinnen?« Sie wies auf eine kleine Kommode. Norman blieb einen Moment die Luft weg. Elsies Liebesbriefe. Er hätte sie zusammen mit dem Bettzeug verschwinden lassen sollen. »Rasierklingen — Nagelschere — was ein Mann eben so braucht.« Sie setzte sich auf die Bettkante. »Es ist hübscher, als ich es mir vorgestellt habe. Ich habe etwas Schäbiges erwartet.« »Wieso?« »Weil du immer von der Hütte sprichst. Ich dachte, es wäre so eine Wellblechgeschichte.« Sie klopfte auf die Matratze. »Wenn du mir gesagt hättest, dass es hier so nett ist, wäre ich vielleicht früher gekommen.« Er wusste nicht, ob er das als Aufforderung deuten sollte. Nach allem, was er mit Elsie erlebt hatte, fand er weibliche Signale verwirrend. Wollte Bessie ihm sagen, er solle sich zu ihr aufs Bett setzen? Wollte sie ihm sagen, dass sie mehr von ihm wollte? Oder wollte sie ihn nur auf die Probe stellen, um zu sehen, ob er ein anständiger Kerl war? Er bückte sich, um den Ölofen unter dem Teekessel anzuzünden. »Wo möchtest du deinen Tee trinken?«, fragte er. »Draußen«, antwortete sie lächelnd. »In der Sonne ist es warm.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Drinnen können wir ihn trinken, wenn die Tage kälter werden.« Danach entglitt Normans Leben seiner Kontrolle. Bessie kam jeden Abend nach der Arbeit zum Hof hinaus. Ungehemmt von starren Ansichten über Präservative und jungfräuliche Keuschheit, wie Elsie sie vertreten hatte, gingen sie schon bald miteinander ins Bett. Der Gegensatz zwischen Bessies weicher, entgegenkommender Umarmung und Elsies steifer, furchtsamer Abwehr hätte nicht größer sein können. Wie hatte er sich nur jemals in Elsie verlieben können? Er versuchte sich zu wappnen, um ihr die Wahrheit zu sagen. Er schrieb Briefe, die er nie abschickte. Er fuhr sogar Anfang Oktober nach London, um es ihr ins Gesicht zu sagen. „Es ist aus, Elsie. Ich liebe dich nicht mehr. Ich habe eine andere.” Er brachte es nicht über sich. Sie hing an ihm wie eine Klette und lächelte andauernd ohne jeden Grund. Als er ihr vorwarf, sie sei betrunken, lachte sie. »Nein, Dummchen«, sagte sie liebevoll. »Der Arzt hat mir Tabletten für meine Nerven verschrieben.« »Was für Tabletten?« Sie nahm ein Fläschchen aus ihrer Handtasche. »Keine Ahnung, aber sie wirken. Ich rege mich nicht mehr über jede Kleinigkeit auf.« Norman las das Etikett. »Was sind „Sedativa”, Else?« »Keine Ahnung«, antwortete sie wieder. »Aber es geht mir jetzt ganz gut. Wir können jederzeit heiraten.« »Nein, das -« »Wir besprechen das, wenn ich Ende des Monats zu dir komme«, unterbrach sie ihn vergnügt. »Es ist schon alles in die Wege geleitet. Ich habe Mr. und Mrs. Cosham geschrieben und ein Zimmer bestellt. Ach, was werden wir Spaß haben, Bärchen.« »Aber -« Er brach ab. »Aber was, Bärchen?« »Da ist es doch schon kalt«, sagte er lahm. Bessie erzählte Norman, sein Vater käme zu Besuch. »Er möchte gern mit eigenen Augen sehen, wie der Hof sich macht«, log er. »Ich bin es ihm schuldig, Bess. Er hat mir das Startkapital gegeben.« »Aber warum möchtest du denn nicht, dass ich ihn kennenlerne?« »Das möchte ich schon — aber jetzt noch nicht. Ich habe ihm erzählt, dass ich von morgens bis abends schufte, um das Geschäft auf die Beine zu bringen.« »Schämst du dich meiner, Norman?« »Nein, natürlich nicht. Aber was soll er denn denken, wenn er dich hier sieht? Er wird sofort wissen, dass ich die Finger nicht von dir lassen kann.« Bessie wälzte sich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. »Das stimmt. Du bist schlimmer als Satan.« Norman lachte. »Nur tut Satan es mit allen Hennen — und ich tu's nur mit einer.« Sie drückte ihm einen Finger auf den Mund. »Ich hoffe, du lügst nicht, Norman. Ich verlasse dich nämlich auf der Stelle, wenn ich dich mit einer anderen erwische.« »Das wird nicht passieren«, versicherte er. »Du bist die Einzige für mich, Bessie.« Er nahm sie fest in die Arme und zog sie an sich. Doch über ihre Schulter hinweg starrte er unglücklich auf den Vorhang, der seine Kleider vor Staub schützte. Elsie hatte ihn genäht, als sie ihn das erste Mal auf dem Hof besucht hatte. Er machte die Hütte sauber, um alle Spuren von Bessie zu beseitigen. Blonde Haare. Den Geruch ihres Parfüms. Einen ihrer Steckkämme. Die schmutzigen Laken, die er aus dem Nistkasten holte, musste er waschen, um den Hühnergeruch loszuwerden. Sie kamen einheitlich grau aus der Wäsche, verrieten aber durch nichts, dass sie sieben Wochen lang das Bett nicht berührt hatten. Das Erste, was Elsie auffiel, war die Sauberkeit in der Hütte. »Hast du das für mich getan?«, fragte sie, offensichtlich erfreut. »Ich wollte es nett haben, wenn du kommst, Else. Als du das letzte Mal hier warst, war alles ein bisschen verwahrlost.« »Ach, das hat mir nichts ausgemacht. Ich weiß doch, wie schwer du arbeitest, Schatz. Wenn ich erst für immer hier lebe, sorge ich dafür, dass alles immer blitzblank ist.« Er wechselte hastig das Thema. »Wie geht es deinen Eltern?« »Wie immer.« Sie runzelte die Stirn. »Mrs. Cosham sagte, sie sei überrascht, mich zu sehen. Das ist ein bisschen komisch, findest du nicht auch? Ich habe das Zimmer schon vor einer Ewigkeit bestellt.« Norman wandte sich ab, um Teewasser aufzusetzen. »Sie hat mich gefragt, ob wir noch verlobt sind. Warum sollte sie so was sagen, Bärchen?« Er versuchte, gleichgültig mit den Schultern zu zucken. »Ich weiß nicht. Vielleicht wundert sie sich, dass du dieses Jahr nicht so oft hier warst.« »Hast du ihr gesagt, dass ich es mit den Nerven habe? Weiß sie, dass ich Tabletten nehme?« »Nein.« Sie ließ sich aufs Bett sinken. »Gut. Ich werde sie nicht weiter nehmen. Ich habe keine Lust, ständig wie im Halbschlaf herumzulaufen.« »Aber wenn sie dir guttun -« »Du tust mir gut, Norman. Weißt du noch, letzten Sommer? Es war alles so wunderbar. Du und ich ganz allein in unserem kleinen Häuschen.« »Das war im Jahr vorher«, korrigierte er sie. »Im letzten Jahr hast du deine Arbeit verloren — und dein Bruder und deine Schwester haben geheiratet.« »Wir haben uns doch die ganze Zeit geliebt, Bärchen. Das kannst du nicht vergessen haben.« »Das war doch nichts weiter als ein paar Küsse und ein bisschen Knutscherei. Du tust so, als wären wir miteinander im Bett gewesen.« Sie starrte ihn an. »Waren wir ja auch, Norman. Du hättest mich beinahe geschwängert.« Norman warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Kein Mann kann eine Frau beinahe schwängern, Else. Da gibt's nur ja oder nein. Aber ganz egal, wir sind der Sache nicht mal nahe gekommen. Du wolltest auf keinen Fall vor der Hochzeit mit mir schlafen.« »Das ist nicht wahr.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Du warst der Meinung, wenn ich so dringend mit dir ins Bett will, müsste ich dich eben heiraten.« Sie sah plötzlich verwirrt aus. »Du lügst.« »Nein, das weißt du genau«, entgegnete er. »Ich sage nicht, dass ich nicht wollte, aber -« Er breitete die Hände aus und ging zur Tür. »Der schönste Sommer war der vor unserer Verlobung. Damals warst du ziemlich glücklich. Würdest du den Tee machen? Ich habe draußen noch zu tun.« Elsie verstand Normans Bemühungen, sie versteckt zu halten, gründlich falsch. Sie glaubte, er holte sie aus Ungeduld schon vor Sonnenaufgang bei den Coshams ab. Und hielte sie aus Leidenschaft in der Hütte fest, bis es draußen ganz dunkel war. Es machte sie nicht einmal argwöhnisch, dass er plötzlich „Bärchen”, „Schatz” und „Liebste” zu ihr sagte. »Wir können heute nicht zur Stadt gehen, Bärchen…« »Bleib drinnen, Schatz. Ich will nicht, dass du dir die Hände schmutzig machst…« »Es ist ein richtiger Festtag, wenn du für mich kochst, Liebste…« Norman wusste, dass sein Verhalten grausam war, aber er gab Elsie die Schuld. Wenn sie nur halbwegs normal gewesen wäre, würde er sie heute noch lieben. Sie hätte seine Winke verstehen und längst gehen müssen. Wie sollte man sich als Mann verhalten, wenn man ein Versprechen gegeben hatte, das man nicht einlösen wollte? Zu jeder anderen Frau hätte er sagen können: »Es hat nicht geklappt… Nichts für ungut… Hier trennen sich unsere Wege…« Elsie würde der Welt größtes Drama daraus machen. »Du hast mir das Herz gebrochen… Ich bringe mich um… Ich möchte nur noch sterben…« Nach einer Weile sagte er sich, der einfachste Weg, Elsie loszuwerden, sei es, Bessie zu heiraten. Wenn er verheiratet war, würde Elsie ihn in Ruhe lassen müssen. Am Tag nach der Hochzeit wollte er ihr einen Brief schreiben. Liebe Elsie, gestern habe ich Bessie Coldicott geheiratet. Sie ist jetzt Mrs. Thorne. Es tut mir leid, dass ich Dir das auf diese Weise mitteilen muss, aber wenn ich es Dir vorher gesagt hätte, hättest du garantiert eine Szene gemacht. Alles Gute, Norman Es war feige, aber es war auch am sichersten so. Wenn der Brief sie unglücklich machte, würden ihre Eltern sie schon wieder aufmuntern. Und wenn ihnen das nicht gelang, sollte sich Elsie lieber in London umbringen als in der Blackness Road. »Du liebst mich doch, Bärchen«, beschwor Elsie ihn am letzten Tag ihres Aufenthalts auf dem Hof. »Natürlich.« »Dann beweise es mir.« Mit Widerwillen sah Norman zu, wie sie ihr Kleid aufknöpfte und über die Schultern abwärts gleiten ließ. Sie war so mager, dass jede einzelne Rippe sich unter ihrer Haut abzeichnete. In der kläglichen Hoffnung, dann attraktiver auszusehen, nahm sie ihre Brille ab und blickte ihn mit beinahe blinden Augen an. »Schau meinen Busen an, Bärchen.« Mit den Händen schob sie ihre flachen Brüste hoch. »Ist er schön? Gefällt er dir?« Sie senkte die rechte Hand zu ihrer Scham. »Gefällt dir das, Norman? Ist das schön?« О Gott! Elsie begann zu weinen. »Hab mich lieb, Bärchen. Bitte. Ich kann ohne dich nicht leben. Ich bin so — einsam.« Beschämt zog Norman sie an sich. Aber er konnte nur an Bessie denken… ~~~ 86 Clifford Gardens Kensal Rise London 16. November 1924 Mein Allerliebster, es ist etwas Wunderbares geschehen. Deine kleine Elsie bekommt ein Kind. Ich habe diesen Monat meine Regel nicht bekommen, und der Arzt sagt, dass ich ein Kind erwarte. Es muss passiert sein, als wir an meinem letzten Tag bei Dir zusammen waren. Ich weiß, Du willst kein Kind, Bärchen, aber glaub mir, wir schaffen das. Wir müssen nur so schnell wie möglich heiraten. Mein Vater will, dass es noch vor Weihnachten passiert. Er möchte mich nicht zum Altar führen, wenn man es schon sieht. Ach, mein Liebster, ich bin so glücklich. Bitte sag mir, dass Du auch glücklich bist, und schreibe mir, wie schnell Du die Formalitäten für unsere Trauung erledigen kannst. Deine einzige, Dich liebende Frau      Elsie xxx xxx ~~~ Blackness Road Crowborough Sussex 18. November 1924 Liebe Elsie, Dein Brief war ein Schock für mich. Wie kannst Du ein Kind von mir erwarten, wenn wir nie Geschlechtsverkehr miteinander hatten? Wir waren in der Hütte nicht „zusammen”. Ich habe Dich in den Arm genommen, als Du gesagt hast, dass Du einsam bist, aber ich habe nicht mal meine Sachen ausgezogen. Du kannst gar kein Kind erwarten. Der Arzt irrt sich. Sag Deinem Vater, dass Du die Geschichte erfunden hast, um mich zu zwingen, Dich zu heiraten. Wenn Du wirklich schwanger bist, kann das Kind nur von einem anderen sein. Dein      Norman ~~~ 86 Clifford Gardens Kensal Rise London 20. November 1924 Mein einziger geliebter Norman, ich verstehe ja, dass Du erschrocken bist, und es tut mir leid, dass ich Dir Schwierigkeiten mache. Aber es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Der Arzt hat gesagt, dass eine Frau schon von heftigem Schmusen schwanger werden kann, und Du weißt, wie oft wir das getan haben. Wir sollten das Beste daraus machen, Liebster, und nicht miteinander streiten. Mein Vater möchte, dass wir uns treffen, damit ich beweisen kann, dass ich nicht lüge. Er sagt, am besten an einem öffentlichen Ort, damit Du mich nicht beschimpfen kannst. Du kennst doch die Teestube in Groombridge? Dort erwarte ich Dich am nächsten Montag (dem 24.) um drei. Wenn Du nicht kommst, sagt mein Vater, geht er am Abend zu Deinem Vater und spricht mit ihm. Mir ist jeden Morgen übel, Bärchen, und bald wird mein Zustand nicht mehr zu verheimlichen sein. Ich hoffe, Du liebst Deine kleine Elsie genug, um recht an ihr zu handeln. Dein Schatz,      Elsie xxx xxx KAPITEL 7 Groombridge — Montag, 24. November 1924 In der Teestube war es düster. Vor den Fenstern hingen dichte Spitzenvorhänge, und die Wände waren dunkel getäfelt. Norman war im ersten Sommer auf der Farm mit Elsie hierhergekommen. Er hatte sie auf die Stange seines Fahrrads gesetzt, und so waren sie die knapp acht Kilometer bis Groombridge geradelt. Auf der Fahrt durch die Landschaft von Sussex hatten sie schnelle Küsse getauscht. Elsie war selig gewesen, obwohl ihr das Gesäß hinterher tagelang weh tat. Norman kam früh zu der Verabredung, aber Elsie war schon da. Er entdeckte sie sofort. Sie saß an einem Tisch in der Ecke und kaute nervös an den Fingernägeln. Er fragte sich, wie lange sie schon wartete. Stunden wahrscheinlich. Vermutlich hatte sie ihre Rede einstudiert, nachdem sie ihm den Brief geschrieben hatte. Sie hob die Hand, um zu winken, als sie ihn sah, und senkte sie gleich wieder angesichts seiner finsteren Miene. Wozu überhaupt mit ihr reden? Glaubte sie im Ernst, er wäre so dumm, an ein Kind zu glauben, das es gar nicht gab — nicht geben konnte? »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte sie. »Du hast mir ja praktisch keine Wahl gelassen. Ich möchte nicht, dass mein Vater mit deinen Lügen belastet wird.« »Ich lüge nicht.« Sie legte schützend eine Hand auf ihren Bauch. »Ich trage deinen Sohn unter dem Herzen, Norman.« Gegen seinen Willen zog es seinen Blick zu der behütenden Hand. »Das ist doch alles erfunden, Elsie.« »Der Arzt sagt etwas anderes.« »Woher will er es denn überhaupt wissen? Du warst gerade einmal zwei Wochen von hier weg, als du zu ihm gegangen bist. Vorausgesetzt, du warst überhaupt beim Arzt. Das glaube ich nämlich genauso wenig, wie dieses Märchen von dem Kind, das du angeblich erwartest.« Elsie lächelte strahlend, als die Bedienung an den Tisch kam. »Wir hätten gern eine Kanne Tee und Scones dazu. Mein Mann sagt, dass ich jetzt für zwei essen muss.« Die Frau lachte. »Das freut mich für Sie«, sagte sie zu Norman gewandt. »Wann ist es denn so weit?« »Keine Ahnung«, antwortete er, den Blick auf Elsie gerichtet. »Wann ist es so weit, Elsie?« »Im nächsten Sommer natürlich. Das kannst du doch nicht schon wieder vergessen haben.« Sie verdrehte die Augen zur Zimmerdecke, als wollte sie sagen, Männerl »Ich kann Ihnen nur raten, das Leben zu genießen, solange es noch geht«, sagte die Bedienung, während sie ihre Bestellung aufschrieb. »Danach wird alles anders.« Sie ging weiter zu einem anderen Tisch. »Du musst völlig verrückt sein, wenn du dir einbildest, ich heirate dich ohne einen Beweis«, sagte Norman leise. »Glaubst du vielleicht, ich lache hinterher, wenn dann gar kein Kind kommt? Toben werde ich!« Elsie behielt das künstliche strahlende Lächeln bei. »Aber natürlich kommt das Kind. Meine Mutter hat gesagt, es wird ein Junge, weil mir morgens immer so schlecht ist. Bei meinem Bruder ist es ihr genauso gegangen.« Sie wollte Normans Hand ergreifen, aber er zog sie weg. »Du könntest mich wenigstens trösten«, sagte sie. »Es macht Angst, wenn man nicht verheiratet ist und merkt, dass man ein Kind erwartet.« »Du erwartest kein Kind, Elsie.« Ein Funken Wut blitzte in ihren Augen auf. »Hör auf, das zu sagen.« »Es ist die Wahrheit.« »Nein, ist es nicht«, zischte sie. »Die Wahrheit ist, dass du etwas getan hast, was du jetzt bereust — aber es ist zu spät, Norman. Jetzt musst du mich heiraten, ob es dir passt oder nicht.« Sie rieb ihren Bauch. »Oder möchtest du lieber, dass dein Sohn unehelich zur Welt kommt?« Nein, das wollte er nicht. Er wollte einen Sohn, auf den er stolz sein konnte. Mit Bessie. Aber angesichts Elsies aufflammender Wut zögerte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du schwanger geworden sein sollst«, entgegnete er kleinlaut. »Wie ist es passiert?« Das war die Frage, auf die sie gewartet hatte. Mit einem mit leiser Stimme hervorgebrachten Wortschwall fiel sie über ihn her und beschwor ihn, ihr zu glauben. Der Arzt habe ihr erklärt, dass intime Zärtlichkeiten weit gefähr- liher waren, als die meisten Leute ahnten. Die meisten Kinder seien nicht geplant gewesen, sondern durch Missgeschick entstanden. Eine Frau brauchte einen Mann nur zu berühren, damit seine Spermien in sie hineinwandern konnten. Norman schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie denn?« »Wenn sie sich danach selbst berührt. Hier…« Sie wies abwärts. Konnte das stimmen? »Ich habe deine Knöpfe aufgemacht«, fuhr sie fort. »Da muss es passiert sein.« Sie senkte die Stimme zu einem bedeutungsschweren Flüstern. »Du weißt doch, ich war nackt.« Norman ballte die zwischen seinen Knien herabhängenden Hände zu Fäusten und starrte zum Tisch hinunter. Obwohl er mit Bessie oft genug im Bett gewesen war, beschränkte sich sein Wissen über den Zeugungsvorgang auf das, was seine Hühner ihm vormachten. »So einfach kann es unmöglich sein, Else. Satan muss immer richtig ran.« »Satan ist ein Huhn, Bärchen. Bei Menschen ist das anders.« Wirklich? Er wünschte, er könnte Bessie fragen. Oder auch seinen Vater. Auch als die Bedienung ihnen den Tee und die Scones brachte, plapperte Elsie ungeniert weiter von der kleinen Familie, die sie im kommenden Sommer schon sein würden. Doch ihr fröhlicher Ton klang gekünstelt, als ginge es ihr mehr darum, Fremde zu überzeugen als Norman. Als er sie später zum Bahnhof brachte, befahl sie ihm, so schnell wie möglich alles für die Hochzeit vorzubereiten. »Ich sage meinen Eltern, dass es noch vor Weihnachten so weit ist.« Den Kuss, den sie ihm geben wollte, lehnte er ab. »Du hältst eine Menge für selbstverständlich, Elsie.« »Sollte ich das nicht?«, fragte sie mit einem Zittern der Furcht in der Stimme. »Es ist dein Kind, Norman. Du musst mich heiraten.« »Und wenn ich es nicht tue?« »Dann bringe ich mich um«, schluchzte sie unter Tränen. »Und das ist dann deine Schuld.« Als Bessie an diesem Abend zu ihm kam, fragte er sie, ob eine Frau schon schwanger werden könne, wenn sie das Glied eines Mannes berührte, solange er noch seine Kleider anhatte. Sie kicherte. »Du meinst, so?«, fragte sie und griff ihm zwischen den Beinen an die Hose. »Nein. Wenn sie ihre Hand durch den Hosenschlitz schiebt — und sich danach selber anfasst.« »So?« Sie knöpfte seine Hose auf und berührte kurz seinen Penis, bevor sie sich unter den Rock griff. Er fasste sie um die Mitte und drückte seine Lippen an ihren Hals. »Ich habe heute Morgen einen Kerl getroffen, der sagte, seine Schwester wäre auf die Weise schwanger geworden.« »Er lügt«, erklärte Bessie und lachte wieder. »Die Frau hat's bestimmt getrieben, dass die Wände gewackelt haben, und jetzt hat sie Angst vor ihren Eltern.« »Genau das habe ich mir auch gedacht.« »Wer ist der Kerl?« »Kennst du nicht.« Er drückte sie sachte zum Bett hinunter. »Und ich würde es dir auch nicht sagen. Wenn die Frau lügen will, ist das ihre Sache.« »Man darf nur nicht so blöd sein, solchen Quatsch zu glauben. Wenn anfassen genug wäre — da wären alle Frauen auf der Welt schwanger.« ~~~ Blackness Road Crowborough Sussex 25. November 1924 Liebe Elsie, ich habe lange über das nachgedacht, was Du mir gestern gesagt hast, und ich muss Dir sagen, ich glaube nicht, dass Du schwanger bist. Aus diesem Grund werde ich wegen der Hochzeit nichts unternehmen. Es gibt ein paar Dinge, die ich Dir nicht gesagt habe. Das ganze letzte Jahr war sehr schwierig für mich. Der Hof ist verschuldet, und jemand anders hat mir über meine Schwierigkeiten hinweggeholfen. Ich bin im Moment in einem großen Zwiespalt und brauche Zeit, um mir über eine Entscheidung klar zu werden. Dein      Norman ~~~ 86 Clifford Gardens Kensal Rise London 26. November 1924 Mein einziger liebster Norman, ich verstehe das nicht. Natürlich bin ich schwanger. Warum willst Du mir das nicht glauben? Und wer ist dieser jemand anders? Ich finde wirklich, Du schuldest mir eine Erklärung. Deine Dich liebende      Elsie xxx ~~~ Blackness Road Crowborough Sussex 27. November 1924 Liebe Elsie, ich habe Dir nicht gesagt, dass spätabends immer eine Frau zu mir kommt. Es hat angefangen, als Du wieder eine Nervenkrise hattest und wieder einmal vom Leben nichts mehr wissen wolltest. Ich habe einfach die Hoffnung verloren, dass wir jemals miteinander glücklich werden. Diese andere Frau ist anders. Sie bringt mich zum Lachen und unterstützt mich, wenn es einmal ganz schlimm ist. Ich empfinde sehr viel für sie, sonst hätte ich nicht getan, was ich getan habe. Es tut mir leid. Dein      Norman ~~~ Blackness Road Crowborough Sussex 27. November 1924 Lieber Dad, ich könnte Deinen Rat gebrauchen. Ich stecke in Schwierigkeiten mit dem Hof und mit Elsie. Wäre es Dir möglich, mich in den nächsten Tagen mal zu besuchen? Tut mir leid, wenn ich Dir Umstände mache. Dein Dich liebender Sohn,      Norman ~~~ 86 Clifford Gardens Kensal Rise London 28. November 1924 Lieber Norman, Du hast mir das Herz gebrochen. Ich hätte nie gedacht, dass Du mich so belügen könntest. Ich habe mich Dir hingegeben und Dir meine ganze Liebe geschenkt, und Du hast mich betrogen. Wie armselig muss ein Mann sein, der seine Frau im Stich lässt, nur weil sie schlechte Nerven hat. Es ist Dir anscheinend ganz gleich, wie es mir geht. Du schreibst nicht ein einziges Wort von Liebe, obwohl ich zu Dir gestanden habe, als Du keine Arbeit hattest. Ich erwarte, dass Du mit dieser Frau Schluss machst und mich heiratest. Teile mir postwendend mit, welchen Tag Du gewählt hast. Ich werde Dich immer und ewig lieben, trotz allem, was Du getan hast. Deine Dich liebende      Elsie xxx KAPITEL 8 Blackness Road — Sonntag, 30. November 1924 Norman erschrak fast zu Tode, als Elsie ihm auf den Arm schlug. Er machte gerade die Hühnerställe sauber und hatte die Straße nicht im Blick. Er summte vor sich hin und dachte an Bessie. »Was zum Teufel -« rief er, duckte sich und riss abwehrend die Arme in die Höhe. Er hatte überhaupt nicht mit Elsie gerechnet. Sie schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein. »Ich hasse dich«, schrie sie ihn an. »Wer ist die andere Frau? Wie heißt sie? Warum hast du auf meinen Brief nicht geantwortet?« Norman wehrte die Schläge ab. Er hatte sie noch nie so außer sich erlebt. Ihr Haar war wirr, ihr Gesicht rot vor Wut. »Ich habe deinen Brief erst heute Morgen bekommen«, log er. »Du lügst! Du hast ihn schon gestern bekommen. Ich will meine Hochzeit haben, Norman. Wann soll sie sein?« Sie trat ihm gegen das Bein. »Los! Sag es mir!«, kreischte sie. Hühner flatterten erschrocken auseinander. »Bleib doch ruhig«, flehte er. »Du machst den Hühnern Angst.« Aber sie ließ sich nicht ablenken. »Jetzt, Norman — ich will es jetzt wissen.« »Bald«, sagte er verzweifelt und wich wieder einem Schlag aus. »Bald.« Sie senkte die Arme. »Wann?« »Vor Weihnachten.« Sie blickte ihm forschend ins Gesicht, um zu sehen, ob er log. »Ich rate dir, die Wahrheit zu sagen. Wenn ich dahinter komme, dass du wieder gelogen hast -« Mit einem Schluchzen brach sie ab. »Wie konntest du nur, Bärchen? Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.« »Das kannst du«, versetzte er kleinlaut. »Ich wollte dir heute schreiben. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann machen Sie sich bestimmt Sorgen. Du solltest nach Hause fahren. Ich bringe dich zum Bahnhof.« »Ich bleibe hier«, widersprach sie dickköpfig. »Ich fahre erst als verheiratete Frau nach London zurück. Alle sagen, es wird nie so weit kommen. Aber das wird es sehr wohl. Du bist mir versprochen… du warst mir immer versprochen.« Was blieb Norman anderes übrig, als ja zu sagen? Man konnte mit Elsie nicht vernünftig reden, wenn sie in diesem Zustand war. Er hätte gern gesagt, sie solle eine Tablette nehmen, doch er fürchtete, dass es dann wieder Schläge hageln würde. In dieser Stimmung konnte sie wegen jeder Kleinigkeit in Wut geraten. Und er hatte noch ein größeres Problem. Er musste sie loswerden, bevor heute Abend Bessie zu ihm kam. Also log er. Er beteuerte Elsie, er liebe sie. Er wolle das Kind haben. Die Hochzeit werde natürlich stattfinden. Die andere Frau sei längst vergessen. Nur eine Dummheit, die er in seiner Einsamkeit gemacht hatte. »Aber jetzt musst du nach Hause fahren, Elsie. Du kannst nicht hier bleiben, bis wir heiraten. Das gibt nur Tratsch.« »Das ist mir gleich.« »Aber mir nicht«, sagte er entschieden, während er sie zum Tor lotste. »Ich möchte eine Frau, auf die ich stolz sein kann — nicht eine, von der die Leute sagen, sie wäre ein Flittchen.« Natürlich gab Elsie nach. Wie Norman gewusst hatte. Das war ja ihre größte Angst. Dass die Leute sie hinter ihrem Rücken verhöhnen würden. Aber interessierte es denn — außer Norman und ihrer Familie — überhaupt jemanden, dass Elsie Cameron existierte? An diesem Abend sagte Norman Bessie die Wahrheit. Er tat es sehr ungeschickt. Begann immer wieder mit, »Weißt du noch, als ich sagte…« Bessie nahm es gelassen. »Ich bin nicht blöd, Norman. Ich habe Elsies Liebesbriefe schon vor Wochen gefunden. Das ist bei Frauen so — sie kramen in den Sachen ihrer Männer.« Er war eher erleichtert als empört. »Und?« »Ich habe Mrs. Cosham nach ihr gefragt. Sie hat gesagt, dass Elsie nervenkrank ist — und du der arme Kerl bist, der das kurze Hölzchen gezogen hat. Elsie ist es doch völlig egal, wen sie heiratet, Hauptsache, es gibt eine Hochzeit.« »Am Anfang habe ich sie gemocht, Bess.« Sie lehnte sich an ihn. »Du warst ein naiver kleiner Junge — gefundenes Fressen für die erste grapschige Frau, der du über den Weg gelaufen bist. Du musst ehrlich zu ihr sein. Sag ihr, dass du sie nicht mehr liebst.« »So leicht geht das nicht. Sie wird sofort -« er suchte nach einem Wort — »hysterisch«. Seufzend setzte er hinzu: »Ich wollte, sie würde einfach verschwinden und mich in Ruhe lassen.« »Aber solche Menschen tun das nicht, Norm. Sie wird dir die Hölle heiß machen, bis du tust, was sie will. Ich habe mal so einen Mann gekannt. Ich war ein paar Mal mit ihm aus, und er hat sich aufgeführt, als wäre ich sein Eigentum. Einmal hat er mich sogar ins Gesicht geschlagen, weil er glaubte, ich hätte einem anderen Mann zugelächelt. « Norman war entsetzt. Wenn Elsie ihn schlug, war das schlimm genug, aber dass ein Mann es wagte, Bessie zu schlagen… »Und dann?« »Dann hat mein Vater ihn sich vorgenommen und ihm gesagt, dass er ihm eigenhändig den Hals umdreht, wenn er sich noch einmal in meine Nähe wagt. Das hat gewirkt. Er ist aus der Stadt weggegangen, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Vielleicht solltest du auch deinen Vater bitten, für dich einzuspringen.« »Mein Vater hat noch nie eine Frau geschlagen.« »Braucht er ja auch nicht zu tun. Er muss Elsie nur klarmachen, dass du sie nicht heiratest. Vielleicht glaubt sie es, wenn es aus dem Mund deines Vaters kommt.« Aber Mr. Thorne lehnte es ab, seinem Sohn die schmutzige Arbeit abzunehmen. Das war drei Tage später, als er in Antwort auf Normans Brief auf den Hof kam. Sie waren zum Schutz vor dem Wind in die Hütte gegangen. Norman trug stotternd und stammelnd ein zweites Mal seine Geschichte vor und bat danach seinen Vater, für ihn mit Elsie zu sprechen. Mr. Thorne musterte mit kritischem Blick die Behausung seines Sohns. »Das kannst du keiner Frau zumuten«, sagte er. »Ich weiß… aber Elsie hört nicht auf mich. Auf dich würde sie vielleicht eher hören.« »Kann schon sein, aber das ist eine schäbige Art und Weise, ihr zu sagen, dass du sie nicht heiraten willst. Ich hätte gedacht, dass ich dich zu mehr Aufrichtigkeit erzogen habe, mein Junge.« »Hast du ja auch, aber -« »Ich bin enttäuscht von dir, Norman. Du bist Methodist und weißt, was christliche Werte bedeuten. Du hättest sie niemals allein hierherkommen lassen dürfen.« »Ich weiß, aber -« »Ich hätte dich für vernünftiger gehalten.« »Aber ich habe nie etwas getan, Dad.« »Ganz sicher?« »Ganz sicher. Es könnte vielleicht in dem ersten Sommer, als wir hier waren, so passiert sein, wie sie sagt. Da sind wir uns manchmal ganz schön nahe gekommen.« Er schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Sie lügt. Ich fresse einen Besen, wenn sie überhaupt beim Arzt war.« Mr. Thorne seufzte. »Dann lass dich keinesfalls auf einen frühen Hochzeitstermin ein. Wenn sie die Wahrheit sagt, müsste es spätestens im Frühjahr zu sehen sein. Wenn nicht, kannst du ihr dann mit gutem Gewissen den Laufpass geben.« »Aber du hast keine Ahnung, wie sie ist«, sagte Norman unglücklich. »Als sie am Sonntag hier war, wollte sie so lange bleiben, bis ich sie heirate. Was soll ich tun, wenn sie das noch mal versucht?« »Zeig ihr, wer den Ton angibt«, riet Mr. Thorne. »Schick sie weiter. Setz sie in den Zug.« Norman rieb sich die Handgelenke. »Du hast sie nie erlebt, wenn sie wütend ist. Sie ist wie eine Wahnsinnige — schreit und kreischt…« »Ich dachte, sie nimmt Nerventabletten.« »Am Sonntag hatte sie keine genommen. Sie hat auf mich eingeprügelt.« Mr. Thorne runzelte die Stirn. »Das ist eine schlimme Geschichte, mein Junge. Aber ich habe dich gewarnt.« Norman schluckte mit Mühe Tränen der Verzweiflung hinunter. »Und was soll ich jetzt tun?«, fragte er rau. »Ich mag sie nicht einmal mehr — und heiraten will ich sie gleich gar nicht.« »Dann spiele auf Zeit. Mehr bleibt dir nicht übrig. Außer darum zu beten, dass du recht hast und sie tatsächlich nicht schwanger ist.« »Ich weiß, dass ich recht habe, Dad. Darum brauche ich nicht zu beten.« »Dann tu ich's«, sagte Mr. Thorne und stand auf. »Ich bin nicht so hochmütig wie du, Norman. Gott allein entscheidet darüber, wann und wie ein Kind geboren wird.« »Und wenn Elsie nun doch ein Kind erwartet?«, sagte Norman an diesem Abend zu Bessie. »Kein Mensch wird glauben, dass es nicht von mir ist. Dann muss ich sie heiraten, ob ich will oder nicht.« »Sie erwartet keines.« »Woher willst du das wissen?« »Sie kriegt doch nicht mal dich dazu, mit ihr zu schlafen.« Er stützte den Kopf in die Hände. »So hässlich ist sie auch wieder nicht, Bess.« »Meinetwegen. Nehmen wir an, es gibt tatsächlich einen anderen Mann. Warum sollte sie dann dich heiraten wollen und nicht ihn?« »Vielleicht ist er schon verheiratet.« Bessie lachte belustigt. »Jetzt hör aber auf. Wo sollen sie's dann getan haben? Im Bett ihrer Eltern? Oder im Bett seiner Ehefrau?« »Das ist ekelhaft.« »Na ja, sonst käme nur eine schnelle Nummer im Stehen in irgendeinem Hinterhof in Frage. Ist sie eine Prostituierte?« »Sei nicht albern.« »Du bist albern, Norman. Elsie kann gar nicht schwanger sein. Dein Vater hat recht. Du musst durchhalten und es darauf ankommen lassen — auch wenn sie dir das Leben in der Zwischenzeit zur Hölle macht…« ~~~ Blackness Road Crowborough Sussex 3. Dezember 1924 Liebe Elsie, heute hat mich mein Vater besucht. Er ist mit einer überstürzten Heirat nicht einverstanden und hat gesagt, wir müssen bis nach Weihnachten warten. Ich hoffe, Du verstehst das. Dein      Norman KAPITEL 9 Kensal Rise, Nord-London — Freitag, 5. Dezember 1924 Die Friseuse hatte Elsies Haare zu einer hübsch gedrehten Nackenrolle hochgesteckt. Jetzt krauste sie die Stirnfransen zu einer Wolke zarter Löckchen um das Gesicht der jungen Frau. »Und wohin geht die Reise?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung zu der kleinen Reisetasche zu Elsies Füßen. Elsie betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Sie hatte eine andere Frisur verlangt, etwas, das von ihrer Brille ablenken würde. War das hier das Richtige? Sah sie damit hübsch aus? »Sussex«, antwortete sie. »Ich war mal in Brighton.« »Ich heirate dort.« »Wie schön«, sagte die Frau. »Außerhalb der Saison ist es wahrscheinlich billiger. Wann ist denn der große Tag?« »Morgen.« »Lieber Himmel! Und wer ist der Glückliche?« »Norman Thorne«, sagte Elsie. »Er hat einen eigenen Bauernhof mit Haus und allem.« Die Friseuse lächelte. »Und ich hab nur zwei Zimmer und einen Müllmann abbekommen. Ich würde gern wissen, was ich falsch gemacht habe.« Sie umschloss Elsies Gesicht mit den Händen. »Wie finden Sie's? Sind die Haare gut so?« »O ja. Norman wird mich nicht wiedererkennen.« Elsie hob die kleine Reisetasche auf ihren Schoß und schob einen Waschbeutel auf die Seite, um an ihre Geldbörse zu kommen. »Wie viel?« »Mit sechs Pence sind Sie dabei.« Der Friseuse fiel auf, wie wenig die Reisetasche enthielt. Ein Babykleidchen, zwei Paar Schuhe und den Waschbeutel. Sie fragte sich, welche Frau ohne Schlüpfer in ihr neues Heim einziehen würde. Die Geldbörse enthielt noch weniger. Als Elsie für ihre neue Frisur bezahlt hatte, waren nur noch zwei Pennies und eine Eisenbahnfahrkarte darin. Nun ja — einer Friseuse stand es nicht zu, die Worte einer Kundin anzuzweifeln. Aber du meine Güte, wie gern hätte sie diesem mageren kleinen Ding gesagt, dass das grüne Strickkleid ihr überhaupt nicht stand. Und dass abgekaute Fingernägel und die Verzweiflung hinter den Gläsern der Hornbrille Männer schneller als alles andere in die Flucht schlugen. ~~~ Blackness Road Crowborough Sussex Sonntag, 7. Dezember 1924 Meine einzige liebste Elsie, wo bist Du denn gestern geblieben? Du wolltest doch am Samstag kommen. Ich bin extra zum Bahnhof gefahren, um Dich abzuholen. Hat etwas nicht geklappt? Gib mir so bald wie möglich Bescheid. Dein Dich liebender      Norman ~~~ Telegramm, 10.00 Uhr, Mittwoch, 10. Dezember 1924 Von: Donald Cameron, 86 Clifford Road, Kensal Rise, London An: Norman Thorne, Wesley Geflügelfarm, Crowborough Elsie ist am Freitag zu Ihnen gefahren. Haben nichts von ihr gehört. Ist sie angekommen? Bitte um Antwort. ~~~ Telegramm, 15.00 Uhr, Mittwoch, 10. Dezember 1924 Von: Norman Thorne, Wesley Geflügelfarm, Crowborough An: Donald Cameron, 86 Clifford Road, Kensal Rise, London Elsie nicht hier. Verstehe nicht. Habe ihr Sonntag geschrieben. KAPITEL 10 Blackness Road, Crowborough — Freitag, 12. Dezember 1924 Constable Beck keuchte auf seinem schweren Fahrrad die Blackness Road hinunter und wünschte wieder einmal, er wäre dünner. Als er die Wesley Geflügelfarm erreichte und den morastigen Hof sah, ließ er sein Fahrrad stehen und machte sich zu Fuß auf die Suche nach Norman Thorne. Er fand ihn in einem der Hühnerställe. »Mr. Thorne? Norman Thorne?« »Richtig.« Norman wischte sich die Hand an der Hose ab, bevor er sie dem anderen zum Gruß bot. »Entschuldigen Sie den Matsch. Der Regen hat den Boden aufgeweicht. Was gibt's denn?« Der Polizist gab ihm die Hand. »Ich komme wegen Miss Elsie Cameron, Sir. Soviel ich weiß, sind Sie mit ihr verlobt.« »Das stimmt, ja. Hat sie einen Unfall gehabt oder so etwas?« »Das versuchen wir gerade festzustellen. Ihr Vater hat sie gestern als vermisst gemeldet. Er sagte, sie habe London vor einer Woche verlassen und wollte hierherkommen.« Norman schüttelte den Kopf. »Hier ist sie nicht. Sie wollte eigentlich am Samstag kommen — aber das tat sie nicht. Ich habe gleich am nächsten Tag geschrieben und gefragt, was los ist, aber sie hat nicht geantwortet. Ich habe nur ein Telegramm von ihrem Vater bekommen.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erzählen, was Sie am letzten Freitag getan haben, Mr. Thorne?« »Keineswegs.« Norman wies zu seiner Hütte. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Drinnen ist es wärmer. Ich kann Ihnen eine Fotografie von Elsie geben, wenn das eine Hilfe ist. Ich bin ziemlich beunruhigt, wissen Sie.« Aber nicht so beunruhigt, dass es ihn selbst zur Polizei getrieben hätte, dachte Constable Beck brummig, während er vorsichtig durch den Morast stieg. Er sah sich das Bild von Elsie an, und Norman setzte das Teewasser auf. »Mr. Cameron hat ausgesagt, dass sie am Freitagnachmittag aus dem Haus gegangen ist«, bemerkte er und zog sein Heft heraus. »Würden Sie mir sagen, was Sie von der Mittagszeit an getan haben?« Norman hatte ein erstaunlich gutes Gedächtnis. Er erinnerte sich sehr genau daran, was er am Freitag, dem 5. Dezember, getan hatte. Kurz nach dem Mittagessen war er nach Tunbridge Wells geradelt, um Schuhe zu kaufen. Nach seiner Rückkehr gegen vier Uhr hatte er die Hühner gefüttert und bei Mr. und Mrs. Cosham Milch geholt. »Danach habe ich Tee gekocht und mich kurz hingelegt«, sagte er. »Ich war am Ende. Die Fahrt nach Tunbridge Wells und wieder zurück macht einen fertig.« »Aber Miss Cameron ist nicht gekommen?« »Nein. Etwas später bin ich noch einmal ausgegangen — das wird so um Viertel vor zehn gewesen sein. Ich hatte zwei Damen meiner Bekanntschaft versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen und nach Hause zu begleiten. Mrs. Coldicott und ihre Tochter. Sie waren den Tag über in Brighton gewesen und kamen mit dem Zehn-Uhr-Zug zurück.« »Adresse?« Norman gab sie ihm. »Ich bin noch ungefähr eine Viertelstunde bei ihnen geblieben und war dann um halb zwölf wieder hier. Elsie war nicht hier… aber ich habe sie auch erst am Samstag erwartet.« »Woher kennen Sie die Coldicotts?« »Mrs. Coldicott kauft ab und zu ein Huhn bei mir.« »Was haben Sie am Samstag getan, Mr. Thorne?« »Erst habe ich die Hühner gefüttert und getränkt, danach bin ich zum Bahnhof gefahren, um Elsie abzuholen. Sie hatte mir geschrieben, dass sie mit dem Zug um Viertel nach zehn ankommen würde. Ich habe eine Stunde gewartet, dann habe ich den Zug nach Tunbridge Wells genommen.« »Kam das häufiger vor?« »Was?« »Dass sie Sie versetzt hat?« Norman starrte ihn einen Moment an. »So habe ich das gar nicht gesehen. Ich habe angenommen, sie hätte aus irgendeinem Grund zu Hause bleiben müssen. Meinen Sie, ob ich besorgt war?« »Wenn Sie so wollen.« »Weshalb hätte ich mir Sorgen machen sollen?« Constable Beck zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Was haben Sie am Samstag in Tunbridge Wells getan?« »Nichts Besonderes. Ich bin ein bisschen herumgelaufen, dann bin ich wieder nach Hause gefahren. Am Bahnhof habe ich nach Elsie gefragt, für den Fall, dass sie mit einem späteren Zug gekommen war, aber niemand hatte sie gesehen. Auf dem Heimweg habe ich noch bei den Coshams vorbeigeschaut, um Milch mitzunehmen, und habe gefragt, ob sie ein Zimmer bei ihnen bestellt hatte. Hatte sie aber nicht.« »Dort hat sie gewöhnlich übernachtet?« Norman nickte. »Die Coshams hatten für Samstagabend ein Fest geplant. Da wollte ich eigentlich mit Elsie hingehen.« »Und — sind Sie trotzdem gegangen?« »Nein. Sie haben es abgesagt, weil nicht genug Leute kommen konnten.« Der Polizist machte sich eine Notiz. »Was haben Sie stattdessen getan?« »Ich bin zu den Coldicotts gefahren. Im Kino lief ein Film, den ich gern sehen wollte. Ich habe Miss Coldicott gefragt, ob sie Lust hätte, mitzukommen.« Constable Beck sah sich noch einmal die Fotografie von Elsie an. »Wie alt ist Miss Coldicott?« »Zwanzig.« »Sind Sie enger mit ihr befreundet, Mr. Thorne?« »Nein. Sie geht nur gern ins Kino.« »Und Sie sagen, dass Sie Miss Cameron am nächsten Tag geschrieben und gefragt haben, was passiert sei?« »Ganz recht.« »Haben Sie den Brief noch, in dem sie angekündigt hatte, dass sie am Samstag kommen würde?« »Wir haben das nicht per Brief ausgemacht. Sie war am Wochenende vorher hier. Da haben wir Tag und Zeit vereinbart.« Constable Beck nahm den Henkelbecher entgegen, den Norman ihm reichte. »Haben Sie eine Vermutung, was ihr zugestoßen sein könnte?« Wieder schüttelte Norman den Kopf. »Ich habe allerdings überlegt, ob sie im Zug eingenickt und dann in Brighton gelandet ist. Sie nimmt Tabletten zur Beruhigung ihrer Nerven. Da schläft sie manchmal an den merkwürdigsten Orten ein.« »Aber sie wäre doch dort nicht geblieben?« Norman zog ein Gesicht. »Ich weiß nicht. Vielleicht will sie uns Angst machen, um unsere Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie kann manchmal sehr sonderbar sein.« Constable Beck reichte einen Bericht über dieses Gespräch an seinen Inspector weiter. »Und was halten Sie von ihm?«, fragte dieser. »Er ist ein junger Bursche. Scheint ziemliche Mühe zu haben, über die Runden zu kommen. Sein Hof hat mehr Ähnlichkeit mit einem Saustall als mit einer Hühnerfarm. Aber er ist ganz sympathisch, und er schaut einem in die Augen, wenn er mit einem spricht.« »Sie glauben also, er sagt die Wahrheit?« »Ich habe bei Mr. und Mrs. Cosham nachgefragt, und die haben bestätigt, was er gesagt hat. Außerdem war ich bei den Coldicotts, und da war es das Gleiche. Ich bin nur nicht so sicher, dass er mit Bessie Coldicott wirklich nur lose befreundet ist, wie er behauptet. Sie ist ein hübsches Ding und hat über Thornes Hof geredet, als wäre sie regelmäßig dort.« »Interessant.« Der Inspector legte unter seiner Nase die Fingerspitzen aneinander. »Mr. Cameron hat ausgesagt, dass seine Tochter von Thorne schwanger war. Ist Bessie so hübsch, dass unserem Freund seine Unvorsichtigkeit jetzt leid tun könnte?« »O ja«, sagte Beck trocken. »Im Aussehen gibt's da keinen Vergleich.« An diesem Wochenende erschien in den Zeitungen Elsies Fotografie mit dem Untertitel: „Hat jemand diese Frau gesehen?” Daraufhin meldeten sich zwei Blumenzüchter in Crowborough. Sie erzählten der Polizei, sie seien am Tag von Elsies Verschwinden um zehn nach fünf an einer Frau vorübergekommen, auf die Elsies Beschreibung passte. Sie sei in Richtung Wesley Geflügelfarm gegangen. Diesmal rückte ein ganzer Trupp Polizeibeamter auf Normans Hof an. Man fragte ihn, ob er gegen eine Durchsuchung der Gebäude etwas einzuwenden habe. »Aber nein, natürlich nicht«, versicherte er. »Ich möchte helfen, wo ich kann.« Der Inspector schickte seine Leute in die Hühnerställe, während er selbst mit Norman in die Hütte ging. Er wollte sich nicht setzen und lehnte eine Tasse Tee ab. Er ging in dem kleinen Raum umher, zog Schubladen auf und sah Normans Kleider durch. Er stellte Norman die gleichen Fragen wie vorher Constable Beck. Und erhielt die gleichen Antworten. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Mr. Thorne.« »Mein Leben ist ziemlich eintönig. Da braucht man sich nicht viel zu merken.« »Das letzte Mal war Elsie also am Sonntag, dem 30. November hier?« Norman nickte. »Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Der Inspector betrachtete ihn einen Moment lang. »Und wie oft haben Sie Miss Coldicott in dieser Zeit gesehen?« »Nur einmal«, antwortete Norman wahrheitsgemäß. Bessie war in der Hütte gewesen, als ein Reporter an der Tür erschienen war. Norman sorgte dafür, dass sie nicht gesehen wurde, indem er ins Freie trat und die Tür hinter sich schloss. Aber Bessie hatte einen Schrecken bekommen. »Ich möchte nicht in den Zeitungen landen«, sagte sie, nachdem der Reporter gegangen war. Sie zitterte. Norman versuchte, sie zu beruhigen. »Nein«, rief sie und stieß ihn weg. »Ich kann dich erst wiedersehen, wenn das alles vorbei ist. Ich will meine Familie nicht in einen Skandal hineinziehen, Norm.« Sie huschte in der Dunkelheit davon, ohne sich zu verabschieden. Es war, als hätte der Inspector Normans Gedanken gelesen. »Ich habe gehört, dass Reporter bei Ihnen waren, Mr. Thorne.« »Ich habe sie bestimmt nicht eingeladen. Sie kommen einfach.« »Aber Sie führen sie herum und lassen sich zusammen mit Ihren Hühnern von ihnen fotografieren.« Norman zuckte mürrisch mit den Schultern. »Was soll ich denn tun? Wenn ich mich weigere, sagen sie, ich hätte etwas zu verbergen. Sie lungern am Tor herum und warten, bis ich herauskomme.« Der Junge tat dem Inspector leid. Er selbst hatte auch nichts für die Presseleute übrig. »Tja, es ist nicht leicht. Was sind das hier für Flecken?« Er deutete auf den Tisch. »Blut und Eingeweide«, antwortete Norman. »Da nehme ich die Hühner aus und rupfe sie. Manchmal zerlege ich sie auch und schneide die Köpfe ab. Kommt ganz auf die Wünsche des Kunden an. Wenn ich mehrere auf einmal mache, gibt es immer eine ziemliche Sauerei.« »Wo hängen Sie die Hühner auf?« »An einem Balken in einem der leeren Verschläge.« Er schaute in die Höhe. »Manchmal auch an dem Balken hier oben.« Der Blick des Inspectors folgte dem seinen. »An dem, auf dem Sie Ihre Hüte liegen haben?« »Ja, die tu ich dann weg, um Platz zu machen.« »Wie kommen Sie da hinauf?« »Ich steige auf einen Stuhl.« »Darf ich mal?« Norman schob ihm einen Stuhl hin. »Bitte sehr.« Der Inspector stieg hinauf und musterte den Balken. »Er ist sehr sauber. Auf dem oberen Balken liegt Staub — auf dem hier nicht.« »Zum oberen kommt man schwerer hinauf. Wenn ich da oben etwas aufbewahren würde, könnte ich es nicht herunterholen.« »Aber wie kommt es, dass da oben keine Federn liegen, Mr. Thorne? Sie scheinen hier ja sehr gründlich sauber gemacht zu haben.« »Ich tue, was ich kann. Man sollte die Dinge nicht schleifen lassen, nur weil man allein lebt.« Der Inspector sprang vom Stuhl und schob diesen wieder an den Tisch. »Aber draußen, wo die Hühner sind, sehen Sie das anscheinend nicht so? Die Ausläufe sehen aus wie durchgepflügt.« »Daran sind die Hühner schuld. Die scharren nach Würmern.« Der Bursche hatte auf alles eine Antwort, dachte der Inspector. Er beobachtete Norman genau, als er seine nächste Frage stellte. »Wieso ist Elsie am Tag ihres Verschwindens die Blackness Road hinuntergegangen, Mr. Thorne?« Normans Augen weiteten sich ein wenig. »Ich verstehe nicht.« »Zwei Zeugen haben sie um zehn nach fünf gesehen. Sie sagten, sie sei in Richtung Ihres Hofs gegangen.« »Das kann nicht Elsie gewesen sein.« »Sie erkannten sie auf der Fotografie, die Sie uns zur Verfügung gestellt haben.« »Gut, aber sie ist nie angekommen«, erklärte Norman entschieden. »Ich schwöre auf die Bibel, dass ich Elsie Cameron seit Ende November nicht mehr gesehen habe.« ~~~ Blackness Road 31. Dezember Meine liebste Bessie, ich habe Dich schon so lange nicht mehr gesehen. Ich hatte so sehr gehofft, wir könnten Weihnachten zusammen feiern. Aber allmählich bessert sich die Lage hier. Die Reporter sind weg, und die Polizei glaubt mir jetzt, dass Elsie nicht hier war. Ich frage mich inzwischen, ob sie sich irgendwo heimlich das Leben genommen hat. Sie hat immer damit gedroht, dass sie das tun würde, wenn ich sie enttäusche. Sie hatte eine merkwürdige Art und keine sehr liebevollen Eltern. Sie haben sie mir aufgedrängt, weil sie von ihren Launen genug hatten. Ich hätte auf meinen Vater hören sollen. Aber wie Du immer sagst, ich war zu jung, um zu wissen, worauf ich mich einließ. Großes Ehrenwort, Liebste, was ich für Dich empfinde, habe ich für keine andere Frau empfunden. Zu Elsie fühlte ich mich aus Einsamkeit hingezogen. Zu Dir fühle ich mich aus Liebe hingezogen. Liebste Freundin, Du hilfst mir durch die dunklen Stunden. Ich hoffe, dieser Alptraum wird bald vorbei sein, und wir können wieder zusammen sein. Dein Dich liebender      Norman ~~~ Groombridge Road Crowborough 13. Januar Lieber Norman, entschuldige, dass ich nicht früher geantwortet habe, aber ich hatte in der Arbeit viel zu tun. Ich glaube, es ist besser, wir sehen uns vorläufig eine Zeitlang nicht. Mein Vater möchte nicht, dass ich mich mit Dir treffe, solange die Polizei noch da ist. Sonst gibt es vielleicht Klatsch. Ich schreibe, wenn ich kann. Meine Eltern sind allerdings nicht allzu erfreut darüber. Alles Liebe      Bessie KAPITEL 11 Wesley Geflügelfarm, Blackness Road — 14. Januar 1925 Ein Schatten verdunkelte die Türöffnung der Hütte. Als Norman von Bessies Brief aufschaute, sah er dort einen Fremden stehen. Hastig wischte er sich mit dem Ärmel seines Pullovers die Tränen aus den Augen. »Ja, was ist?«, fragte er. »Chief Inspector Gillan, Scotland Yard, Mr. Thorne. Ich bin gekommen, um Sie festzunehmen.« »Weswegen?« »Im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Miss Elsie Cameron. Wir haben einen richterlichen Beschluss, der uns erlaubt, Ihr Grundstück umzugraben.« Norman sah an ihm vorbei zu den Polizeibeamten, die draußen auf Spaten gestützt warteten. »Wo ist der andere Inspector geblieben?« »Scotland Yard wurde vor einer Woche zugezogen. Seit Ihre Nachbarin, Mrs. Annie Price, vor der Polizei von Sussex ausgesagt hat, leite ich die Ermittlungen in diesem Fall. Sie hat Miss Cameron am Abend des 5. Dezember um fünf Uhr fünfzehn bei Ihnen durchs Tor gehen sehen. « Norman kannte Annie Price. Sie war eines der von Bessie verachteten „Weiber”, die nichts anderes zu tun hatten, als hinter der Gardine zu stehen und ihre Nachbarn zu bespitzeln. »Das war nicht Elsie«, sagte er. Der Chief Inspector trat in die Hütte. »Wer war es dann, Mr. Thorne?« Über Normans Schulter hinweg las er Bessies Brief. »Miss Coldicott?« »Es war überhaupt niemand. Ich war allein hier.« Gillan schob dem jungen Mann eine Hand unter den Arm und zog ihn auf die Füße. »Ich wette, Elsie liegt irgendwo unter dem Dreck hier, Norman. Aber wenn ich mich irre, werde ich der Erste sein, der sich entschuldigt.« Vier Stunden später wurde Norman aufgefordert, sich zum Inhalt einer Brühwürfeldose zu äußern, die unter einem Haufen Müll in seinem Geräteschuppen entdeckt worden war. Sie enthielt eine beschädigte Armbanduhr, etwas billigen Schmuck und ein Armband. »Gehören diese Sachen hier Elsie Cameron?«, fragte Gillan ihn. »Ja, aber es ist nicht so, wie Sie denken. Sie hat sie dort versteckt, als sie das letzte Mal hier war.« »Warum? Sie sind doch gar nichts wert.« Die Frage brachte Norman aus der Fassung. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Sie hat mir nicht gesagt, warum.« Am nächsten Morgen früh um halb zehn zeigte ihm Gillan Elsies kleine Reisetasche. Sie war völlig durchnässt und starrte vor Schmutz. »Erkennen Sie irgendetwas von den Sachen?« Er nahm das Babykleidchen, die zwei Paar Schuhe, den Waschbeutel und eine kaputte Brille heraus. Norman betrachtete die Gegenstände mit aufgerissenen Augen. »Die Reisetasche war in der Nähe Ihrer Hütte vergraben. Wir glauben, dass dies Miss Camerons Brille ist. Wer hat sie dahingelegt?« Norman antwortete nicht. »Wenn wir ihren Leichnam finden, werden Sie wegen Mordes angeklagt werden. Haben Sie das verstanden? Und auf Mord steht der Tod durch den Strang. Möchten Sie mir vielleicht irgendetwas sagen, was Ihr Leben retten könnte?« Norman befeuchtete seine spröden Lippen. »Nein«, antwortete er flüsternd. Zehn Stunden später überlegte er es sich anders. Abends um acht bat er darum, mit Chief Inspector Gillan sprechen zu dürfen. »Ich habe Elsie nicht getötet«, sagte er, »aber ich weiß, wo ihre Leiche liegt. Sie liegt unter dem Auslauf für die Leghorns.« »Wollen Sie eine Aussage machen, Norman?« »Ja.« »Dann muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass alles, was Sie sagen, zu Protokoll genommen wird und gegen Sie verwendet werden kann.« ~~~ Polizeidienststelle Sussex Aussage von Norman Thorne am 15. Januar 1925 um 20 Uhr 15 Ich war überrascht, als Elsie am Freitag, dem 5. Dezember, auf den Hof kam. Es war kurz nach fünf Uhr abends. Sie war ziemlich aufgebracht. Als ich ihr Tee und ein Butterbrot machte, beruhigte sie sich. Ich fragte sie, warum sie gekommen sei und wo sie übernachten wolle. Sie erklärte, sie würde in der Hütte übernachten. Und sie sei entschlossen, so lange zu bleiben, bis wir heirateten. Ich sagte, das ginge nicht, und daraufhin gab es einen kleinen Streit. Um halb acht ging ich zu den Coshams, um zu fragen, ob sie für die Nacht ein Zimmer für sie hätten. Aber sie waren nicht da. Als ich zum Hof zurückkam, war Elsie sehr aufgebracht. Wir stritten uns wegen Bessie Coldicott. Elsie weinte, weil ich ihr untreu gewesen war. Ich machte ihr ein gekochtes Ei, um sie zu trösten. Sie beruhigte sich wieder, bis ich ihr so gegen halb zehn sagte, dass ich zum Bahnhof müsse, um Bessie abzuholen. Elsie wollte mich zurückhalten. Sie schrie mich an und zerrte mich zum Bett. Sie sagte, ich solle mit ihr schlafen. Ich lehnte ab und sagte, sie solle allein zu Bett gehen. Sie fing an zu schluchzen. Ich konnte es noch vorn am Tor hören. Ich brachte Bessie und ihre Mutter vom Bahnhof nach Hause und kam dann ungefähr um halb zwölf wieder auf den Hof. In der Hütte war Licht. Es fiel durch die Fenster nach draußen. Als ich die Tür aufmachte, sah ich Elsie vom Balken herabhängen. An einem Stück Wäscheleine. Ich konnte es nicht glauben. Ich durchschnitt die Schnur und legte Elsie aufs Bett. Sie war tot. Sie hatte ihr Kleid ausgezogen, und ihre Haare waren offen. Ich machte das Licht aus und legte mich auf den Tisch, wo ich ungefähr eine Stunde liegen blieb. Zuerst wollte ich Dr. Turle holen und jemanden herausklopfen, der die Polizei benachrichtigen könnte. Dann ging mir auf, in was für einer Lage ich mich befand. So viele Leute wussten, dass ich Elsie nicht heiraten wollte. Wer würde mir glauben, dass ich sie nicht getötet hatte? Mir fiel keine andere Lösung ein, als sie zu vergraben und so zu tun, als hätte ich sie nie gesehen. Ich holte meine Bügelsäge und sägte im Schein des Feuers ihre Beine und ihren Kopf ab. Ich habe das getan, weil ich dachte, kleinere Teile wären leichter zu vergraben. Den Kopf habe ich in eine Keksdose gelegt, den Rest in Zeitungspapier eingewickelt. In dem Auslauf, der dem Tor am nächsten ist, habe ich Gruben ausgehoben und Elsie hineingelegt. Dann verbrannte ich ihre Kleider und putzte die Hütte. Ich hatte vorher einfach Angst, die Wahrheit zu sagen. Elsie hatte immer damit gedroht, dass sie sich umbringen würde, wenn ich sie enttäusche. Aber ich hätte nie geglaubt, dass sie es wirklich tun würde. Unterzeichnet:      Norman Thorne KAPITEL 12 Polizeidienststelle Crowborough — 16. Januar 1925 Chief Inspector Gillan faltete die Hände auf dem Tisch. »Was ist aus der Wäscheleine geworden?« »Die habe ich zusammen mit ihren Kleidern verbrannt. « »Warum? Und warum haben Sie ihren Schmuck aufgehoben?« Norman rieb sich die Augen. »Ich habe alle ihre Sachen aufs Bett gelegt, als ich sie zerstückelt habe… und dann habe ich den Kram vergessen. Sie war ganz nackt — sie hatte überhaupt nichts an.« Er holte Atem. »Ich fand die Sachen wieder, als ich anfing, sauber zu machen — aber da war ich zu müde, um noch mehr Löcher zu graben. Es war einfacher, die Kleider ins Feuer zu werfen und ihren Schmuck im Geräteschuppen zu verstecken.« »Sie haben die Reisetasche vergraben.« »Ich wollte das Babykleid nicht verbrennen. Das habe ich nicht fertiggebracht.« Gillan bot ihm eine Zigarette an. »Die Obduktion hat gezeigt, dass sie nicht schwanger war. In dieser Hinsicht zumindest haben Sie die Wahrheit gesagt.« »Ich weiß.« »Aber sonst erzählen Sie uns nur Lügen, Norman. Sie hat sich nicht erhängt. An ihrem Hals waren keine Einschnitte oder Druckstellen von der Leine. Und nichts weist darauf hin, dass von Ihren Balken jemals ein menschlicher Körper herabhing. Sie sind aus weichem Kiefernholz. Die Leine hätte im Holz eine Kerbe zurücklassen müssen.« »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich vorgefunden habe.« »Dann erklären Sie mir, wie die Uhr und die Brille beschädigt wurden.« »Vielleicht hat sie sie selbst kaputtgemacht. Sie war sehr aufgebracht.« »Nicht gerade überzeugend.« »Vielleicht habe ich sie kaputtgemacht, als ich mich auf den Tisch legte. Vielleicht ist sie darauf getreten, nachdem sie sie abgenommen hatte.« Norman senkte den Kopf in seine Hände. »Sie war blind wie ein Maulwurf — aber sie fand, sie sähe ohne Brille besser aus.« »Und war das so?« »Nein.« Gillan fuhr mit dem Finger ein Blatt Papier hinunter, das vor ihm lag. »Der Leichnam war in gutem Zustand, weil es kalt war, und Sie ihn in derselben Nacht begraben haben. Bei der Obduktion wurden Blutergüsse in Elsies Gesicht festgestellt. Haben Sie sie geschlagen?« »Natürlich nicht. Ich habe Elsie nie geschlagen.« »Sie hatten Streit mit ihr.« »Aber ich habe sie nicht geschlagen, Mr. Gillan. Sonst hätte ich Ihnen doch gar nicht erst von dem Streit erzählt. Sie ist zusammengefallen wie ein Kartoffelsack, als ich die Leine durchgeschnitten habe. Ich stand auf einem Stuhl und konnte ihr Gewicht nicht halten. Ich glaube, sie ist mit dem Kopf gegen die Kommode geschlagen. Hätte das Blutergüsse verursacht?« »Das weiß ich nicht. Ich bin kein Fachmann.« Der Kriminalbeamte von Scotland Yard hielt mit dem Finger eine Zeile des Berichts fest. »Hier heißt es, dass sie zwei Stunden vor ihrem Tod eine leichte Mahlzeit zu sich genommen hatte.« Norman beugte sich eifrig vor. »Das beweist doch, dass ich sie nicht getötet habe. Sie hat noch gelebt, als ich um halb zehn gegangen bin.« »Dafür haben wir nur Ihr Wort.« »Aber wir haben erst nach halb neun gegessen. Zuerst war ich bei den Coshams, und dann hatten wir den Krach wegen Bessie. Erst danach habe ich zu kochen angefangen.« »Für das alles gibt es allerdings keine Zeugen, Norman. Die Coshams waren nicht zu Hause, und Sie und Elsie waren allein.« »Woher sollte ich wissen, dass die Coshams nicht da waren, wenn ich nicht dort gewesen wäre?« Gillan zuckte mit den Schultern. »Sie haben Ihre Aussage erst einen Monat später gemacht, jeder hätte es Ihnen erzählen können.« Norman wischte sich die Hände nervös an seiner Hose. »Aber wenn sie sich nicht erhängt hat — und ich sie nicht geschlagen habe -, wie soll ich sie denn dann umgebracht haben?« Gillan ließ sich Zeit mit der Antwort. Das war genau der Punkt, der ihm zu schaffen machte. »Der Obduktion zufolge ist sie an Schock gestorben.« »Was heißt das?« »Ihr Nervensystem hat versagt. Ihr Herz ist stehen geblieben, und sie erlitt einen Kollaps.« Norman starrte ihn an. »Heißt das, dass ihre Nerven sie umgebracht haben? Wie soll das denn passiert sein? Sie haben sie immer geplagt — aber lebensgefährlich war das bisher nie.« »Es hängt davon ab, was Sie ihr angetan haben. In diesem Bericht wird die Vermutung aufgestellt, dass Sie sie mehrmals mit der Faust ins Gesicht geschlagen und dann dem Tod überlassen haben. Wenn Sie das nicht getan hätten — wenn Sie bei ihr geblieben wären und versucht hätten, ihr irgendwie zu helfen -, würde ich Sie nicht des Mordes beschuldigen.« »Aber ich habe nichts getan, Mr. Gillan. Das müssen Sie mir glauben. Es war genau so, wie ich es in meiner Aussage geschildert habe.« Gillan schob seinen Stuhl zurück. »Dann hätten Sie sie nicht enthaupten sollen. Es ist leichter, Druckmale oder Einschnitte zu erkennen, wenn der Hals unversehrt ist.« Er stand auf. »Sie haben diese arme Frau mit weniger Achtung behandelt als ein totes Huhn. Und so was mögen Polizeibeamte nicht, Norman.« KAPITEL 13 Staatliches Gefängnis, Lewes — 3. März 192.5 Als drei Monate später der Beginn des Prozesses gegen Norman immer näher rückte, begannen seine Verteidiger, sich wegen seines Gemütszustands zu sorgen. Er setzte sein Vertrauen in Gott und schien sich überhaupt nicht bewusst, dass alle Beweise gegen ihn sprachen. Sir Bernard Spilsbury, Englands angesehenster Pathologe, hatte die Obduktion durchgeführt. Und Spilsbury hatte mit aller Entschiedenheit auf Mord befunden. Der leitende medizinische Gutachter der Verteidigung war Dr. Robert Brontё. Er hatte eine zweite Obduktion vorgenommen und war bereit, auszusagen, dass er an Elsie Camerons Hals von der Leine hinterlassene Male festgestellt hatte. Er wollte ferner vorbringen, dass „Tod durch Schock” nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes führen dürfe. Es gebe keinerlei Beweise dafür, dass Elsies Tod beabsichtigt gewesen sei. Noch dass ein Kollaps vorhersehbar gewesen sei. Aber Dr. Brontё genoss nicht das Ansehen von Spilsbury; es war unwahrscheinlich, dass die Geschworenen ihm eher folgen würden als Spilsbury, der bei jedem berühmten Mordprozess seit 1910 als Gutachter der Krone aufgetreten war. Sein Wort allein konnte bei den Geschworenen den Ausschlag geben. Der Verteidiger und seine Mitarbeiter waren überzeugt, einzig sein Vater könne Norman begreiflich machen, wie ernst seine Lage war. Zu diesem Zweck erhielt Mr. Thorne die Erlaubnis, am Tag vor Prozessbeginn im staatlichen Gefängnis in Lewes mit seinem Sohn zu sprechen. Er wurde in einen Raum im Erdgeschoss geführt, wo sich der Trakt für die Untersuchungshäftlinge befand. »Geht's einigermaßen?«, fragte er, als Norman hereingebracht wurde. Sie tauschten einen Händedruck. »Ja, es geht so. Es tut gut, dich zu sehen, Dad.« Er sah so jung aus, dachte Mr. Thorne. Immer noch ein kleiner Junge. »Setz dich, mein Sohn. Dein Anwalt, Mr. Cassels, meinte, ich soll mit dir über den Prozess sprechen. Wir beten alle darum, dass ein „Nicht Schuldig” herauskommt, aber -« Er brach ab. Wie sollte er seinem einzigen Sohn beibringen, dass er vielleicht an den Galgen kommen würde? Norman neigte sich über den Tisch und streichelte sachte die Hand seines Vaters. »Aber es kann passieren, dass die Geschworenen diesem Spilsbury glauben?« Mr. Thorne nickte. »Mr. Cassels hat gesagt, sie müssen beweisen, dass ich Elsie töten wollte. Wie wollen sie das machen, wenn sie am Schock gestorben ist? Man kann einen anderen nicht zu Tode erschrecken.« »Spilsbury wird behaupten, die Blutergüsse in ihrem Gesicht wären der Beweis, dass du sie geschlagen hast — und dass dabei auch ihre Uhr und ihre Brille beschädigt worden sind. Wenn es ihr sehr schlecht ging, als du sie allein gelassen hast, weil du Bessie abholen wolltest, werden die Geschworenen vielleicht glauben, du wolltest sie sterben lassen.« »Und was ist mit den Abdrücken von der Leine, die Dr. Brontё gefunden hat?« Mr. Thorne seufzte. »Das ist nur sein Befund, Norman. Spilsbury wird sagen, es seien keine Abdrücke vorhanden gewesen.« »Aber es waren welche da, Dad. Ich habe sie selbst gesehen. Als ich den Strick um Elsies Hals durchgeschnitten habe. Ich verstehe einfach nicht, wieso sie nicht erkennen, dass sie durch Erhängen gestorben ist. Sieht man das nicht in der Lunge, wenn jemand nicht mehr atmen kann?« »Sie hatte vielleicht nie die Absicht, sich umzubringen. Wie ich Dr. Brontё verstanden habe, kann es schon einen Schock auslösen, wenn man sich nur eine Schlinge um den Hals legt und zuzieht.« »Ja, das hat Mr. Cassels auch gesagt. Aber ich verstehe nicht, wieso.« »Das ist der sogenannte Vagusreflex. Manche Menschen reagieren schon auf den leisesten Druck am Hals äußerst empfindlich. Es gab da eine Frau, die innerhalb von drei Sekunden starb, als ihr Geliebter ihren Hals streichelte.« »Aber Elsie hing von dem Balken herunter, als ich sie fand, Dad. Sie wollte sich umbringen.« »Vielleicht doch nicht. Vielleicht war es nur Theater, bei dem etwas schiefgegangen ist.« Norman schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es immer noch nicht.« »Dr. Brontё meint, sie wollte dir einen Schrecken einjagen. Wenn sie die Schlinge schon für den Moment deiner Heimkehr bereithielt, dann auf den Stuhl stieg, als sie hörte, dass das Tor geöffnet wurde…« Mr. Thorne seufzte wieder. »Wenn der Tod infolge eines Vagusreflexes eingetreten ist, dann ist sie nach vorn gefallen. Deshalb hast du sie hängend gefunden.« Norman starrte ihn an. »Willst du sagen, es war ein Unglücksfall?« Sein Vater nickte. »Es könnte einer gewesen sein. Das wäre dann auch der Grund, warum am Balken keine Spuren gefunden wurden. Sie hing da nicht lange genug. Jedenfalls nicht, wenn du sie sofort heruntergeholt hast.« »Habe ich«, sagte Norman plötzlich erregt. »Glaubst du, die Geschworenen glauben mir? Und Dr. Brontё?« »Vielleicht — wenn wir beweisen können, dass sie Selbstmorddrohungen gebraucht hat, um ihren Kopf durchzusetzen. Wir können ganz sicher nachweisen, dass sie gern Theater gespielt hat. Sie hat aller Welt erzählt, sie wäre schwanger. Sie hat sogar ein Babykleidchen gekauft, um die Täuschung aufrechtzuerhalten.« »Ich habe dir doch gesagt, dass sie lügt, Dad. Ihre Eltern hätten sie in eine Klinik bringen sollen. Sie war nicht richtig im Kopf. Sie brauchte Hilfe.« »Zwei ihrer Arbeitskollegen werden das vor Gericht bestätigen, aber ob man ihnen glauben wird…« Mr. Thorne schwieg einen Moment. »Du hättest zur Polizei gehen sollen, als du sie gefunden hast, Norman. Warum hast du das nicht getan?« Der Blick seines Sohnes bekam etwas Hoffnungsloses. »Weil sie mir nicht geglaubt hätten. Sie glauben mir ja auch jetzt nicht.« »Aber damals hätten sie es vielleicht getan. Die Leute halten dich vor allem deshalb für einen Mörder, weil du sie zerstückelt hast. Elsie hätte etwas Besseres verdient gehabt, Norman.« Der Junge schauderte. »Warum hast du das überhaupt getan?« Norman hatte Tränen in den Augen. »Irgendwie kam es mir gar nicht so schlimm vor. Sie war auch nur etwas Totes. Wahrscheinlich schaltet man seine Gefühle ab, wenn man immerzu Hühner schlachten muss. Glaubst du, die Geschworenen werden das verstehen, Dad?« »Nein, mein Junge«, antwortete Mr. Thorne voll Trauer. »Ich glaube nicht, dass sie es verstehen werden.«  EPILOG Am 16. März 1925 wurde Norman Thorne des Mordes an Elsie Cameron für schuldig befunden. Er wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Seine Hinrichtung wurde für den 22. April festgesetzt. Wie der Zufall es wollte, wäre dies Elsies siebenundzwanzigster Geburtstag gewesen. In der Öffentlichkeit wurde Besorgnis über das Urteil laut. Viele waren der Auffassung, im Prozess sei nicht „zweifelsfrei” nachgewiesen worden, dass Norman Elsies Tod herbeigeführt oder die Absicht gehabt hatte, ihn herbeizuführen. Selbst Sir Arthur Conan Doyle — der Schöpfer von Sherlock Holmes — fühlte sich bewogen, Fragen zu stellen. Es kam nichts dabei heraus. Normans Berufung gegen das Urteil und das Strafmaß wurde zurückgewiesen. Am Abend vor seiner Hinrichtung schrieb er seinem Vater. Es war ein Brief voller Hoffnung. Es wird ein hell leuchtendes Licht geben, und alles wird zu Ende sein. Nein, es wird nicht zu Ende sein, es wird erst anfangen, denn ich gehe zu Gott. Ich werde auf Dich warten, wie andere auf mich warten. Ich bin frei von Sünde. In Liebe… ANMERKUNG DER AUTORIN Es lässt mich nicht los, dass Norman Thorne niemals gestanden hat, Elsie Cameron getötet zu haben. Nicht einmal am Galgen. Bis zum Ende beteuerte er, er habe sie erhängt in seiner Hütte vorgefunden. Das ist kein Beweis dafür, dass er unschuldig war. Aber für einen jungen Mann, der an Gott glaubte, ließ er sich auf ein riskantes Spiel ein, wenn er schuldig war. Norman wusste, dass nur die Reue den Sünder in den Himmel führt. Ich glaube, dass es so gewesen ist, wie ich es in dieser Erzählung skizziert habe. Elsie wollte Norman bei seiner Heimkehr einen Schrecken einjagen, indem sie sich mit einer Schlinge um den Hals auf einen Stuhl stellte. Aber der drastische Versuch, Aufmerksamkeit zu erzwingen, schlug fehl. Vielleicht machte die Kälte sie ungeschickt. Vielleicht hat sie die Schlinge aus Versehen zu fest zugezogen. Bei manchen Menschen tritt der Tod infolge eines Vagusreflexes oder Karotissinusreflexes sehr schnell ein. Wenn auf die Nerven und Arterien am Hals Druck ausgeübt wird, stellt das Gehirn seine Tätigkeit ein, und das Herz steht still. Diese Art des „Unfalltods” kann auch erfolgen, wenn zum höheren Lustgewinn beim Orgasmus eine Schlinge um den Hals benutzt wird. Bei den Opfern — im allgemeinen Männer — wird gern „Selbstmord” in den Totenschein eingetragen, weil man die Familien schonen will. Das bekannteste Beispiel einer Reflex-Bewusstlosigkeit ist in Raumschiff Enterprise zu sehen; dort drückt Mr. Spöck einer unbekannten Person die Finger an den Hals. Raumschiff Enterprise ist zwar Fiktion, aber das Prinzip ist das Gleiche. Die Psychoanalyse steckte 1924 noch in den Kinderschuhen, aber die Menschen, die Elsie Cameron kannten, beschrieben sie als seelisch labil. Sie sagten, sie sei „depressiv”, „neurotisch”, „nervös”. Sie hatte große Angst, als alte Jungfer zu enden, und glaubte, andere lachten über sie. Ihre Arbeitskollegen klagten, sie sei „launisch” und „schwierig”. Im Lauf ihrer vierjährigen Beziehung zu Norman verschlimmerten sich ihre Probleme. Sie verlor immer wieder ihren Arbeitsplatz. Sie wünschte sich, geliebt zu werden „wie im Märchen”, und war besessen von dem Wunsch zu heiraten. Sie schwankte zwischen Wut und Depression, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Ein Arzt versuchte, ihrer Störung mit Sedativen (wahrscheinlich einer frühen Form von Barbituraten) beizukommen. Elsies Verhalten legt nahe, dass sie an einer Borderline- Persönlichkeitsstörung litt. Solche Menschen haben wenig Selbstwertgefühl und sind häufig deprimiert. Das Zusammenleben mit ihnen kann schwierig sein. Sie sind ständigen Stimmungsschwankungen unterworfen und werden wütend, wenn sie sich im Stich gelassen fühlen. Sie denken in Schwarz-Weiß-Mustern, Beziehungen, die sie eingehen, sind intensiv und konfliktgeladen. Selbstmorddrohungen sind nichts Außergewöhnliches. Was auch immer am Abend von Elsies Tod geschehen ist, ich bin überzeugt, ihr aufgewühlter Gemütszustand spielte bei ihrem Tod eine Rolle. Entweder provozierte sie mit ihrer hartnäckigen Weigerung zu gehen Norman dazu, sie zu schlagen, oder sie „inszenierte” einen Selbstmord, um ihn in Schuldgefühle zu stürzen und so zu zwingen, Bessie aufzugeben. Im Prozess gegen Norman gab Sir Bernard Spilsburys Zeugnis bei den Geschworenen den entscheidenden Ausschlag. Sie kamen zu dem Schluss, dass Elsie infolge eines tätlichen Angriffs kollabierte, und dass Norman beabsichtigt hatte, sie zu töten. Aber selbst wenn man annimmt, dass er sie geschlagen hat, gab es keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass sie tot war, als er die Hütte verließ. Oder dass er ihren späteren Tod durch Schock hätte voraussehen können. Ich finde einen Satz im Protokoll von Normans Aussage überzeugender. Er sagte, er habe Elsie an dem Balken hängend vorgefunden, sie habe ihr »Kleid ausgezogen« gehabt und »ihre Haare« seien »offen« gewesen. Aber es war eine kalte Dezembernacht. Norman hatte sicher einen Mantel an. Weshalb hätte er auch nur auf den Gedanken kommen sollen zu sagen, er habe Elsie nackt am Balken hängend vorgefunden — — wenn es nicht so war?